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12.03.2023

19:02

Gastkommentar

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt steht der Bekämpfung der Klimakrise im Weg

Investitionen sollten nicht als Staatsausgaben zählen, sondern über Kredite finanziert werden, fordern vier Sozialdemokraten aus Spanien, Frankreich, Italien und Deutschland.

Dominique Potier (PS), Antonio Misiani (PD), Pedro Casares Hontañón (PSOE) und Cansel Kiziltepe (SPD).

Die vier Sozialdemokraten

Dominique Potier (PS), Antonio Misiani (PD), Pedro Casares Hontañón (PSOE) und Cansel Kiziltepe (SPD).

Europa sieht sich seit über einem Jahrzehnt mit Krisen konfrontiert, die sich verstärken. Die Abfolge von Finanz- und Euro-Krise, die Aufnahme von Millionen Geflüchteter, die Covid-19-Pandemie und der russische Angriffskrieg in der Ukraine haben ein weiteres Vorankommen der europäischen Integration verhindert.

Die Ungleichheiten zwischen den EU-Mitgliedstaaten sind immer größer geworden und haben vereinzelt sogar rechtsextremen Parteien den Weg an die Macht geebnet. Deswegen kann Europa es sich nicht leisten, ein weiteres Jahrzehnt zu verlieren. Zu gewaltig sind die gemeinsamen Herausforderungen: Klimaneutralität, sozialer Zusammenhalt und die Wiederbelebung der europäischen Idee.

So abstrakt es auch erscheinen mag: Das Instrument zur erfolgreichen Überwindung dieser Herausforderungen ist das fiskalpolitische Regelwerk der EU – also der Rahmen, in dem einzelne Mitgliedstaaten ihre Einnahmen und Ausgaben vornehmen.

Die aktuellen Vorschläge der Europäischen Kommission in Bezug auf die Reform des fiskalpolitischen Regelwerks sind ein Schritt in die richtige Richtung, doch sie reichen bei Weitem nicht aus.

Wir brauchen in der EU einen institutionellen Rahmen für gemeinsam finanzierte Projekte

Wir müssen die Mitgliedstaaten befähigen, eigenverantwortlich mehr zu investieren, und darüber hinaus einen institutionellen Rahmen für gemeinsam finanzierte Projekte schaffen. Schätzungen der Kommission zufolge sind jährlich zusätzliche Investitionen in Höhe von 260 Milliarden Euro notwendig, um bis 2030 die gemeinsamen Klimaziele zu erreichen. Verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen den Bedarf gar auf 855 Milliarden Euro.

Die Erfüllung dieser Aufgabe ist das Gebot der Stunde. Es ist auch eine Chance – eine Chance, neue Industriezweige zu schaffen, die für Millionen guter Arbeitsplätze sorgen. Es ist auch die Chance, gemeinsame europäische Projekte wie ein europäisches Hochgeschwindigkeitseisenbahnsystem oder eine gemeinsame grüne Wasserstoffinfrastruktur aufzubauen.

Die derzeitige Ausgestaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts priorisiert Haushaltsdisziplin und die Reduzierung der Schuldenstände gegenüber dringend notwendigen öffentlichen Investitionen. So steht der institutionelle Rahmen der Bekämpfung der Klimakrise und dem raschen Aufbau einer autonomen Energieproduktion im Wege.

Zu Beginn der Covid-19-Krise musste der Stabilitäts- und Wachstumspakt sogar für drei Jahre ausgesetzt werden, weil er keinen ausreichenden Spielraum zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Katastrophe ermöglichte.

Wir leben in Zeiten sich gegenseitig verstärkender Krisen, die zusammengenommen verheerender wirken als bloß die Summe ihrer Teile. Pandemie, Krieg, Klimakatastrophe und Energiekrise sind für sich genommen schon große Herausforderungen.

Kommen sie zusammen, stellen sie eine Herausforderung enormen Ausmaßes dar. Es ist höchste Zeit, entschlossen zu handeln und endlich in dem Umfang in unsere Zukunft zu investieren, der notwendig ist.

Verkehrs- und Energieinfrastruktur sollen durch europäische Kredite finanziert werden

Wir wollen ein Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen in Europa und fordern, dafür eine goldene Regel für öffentliche Ausgaben einzuführen. Dieser Idee zufolge sind Investitionen aus den Staatsausgaben herauszurechnen.

In der Konsequenz sollen Investitionen nicht aus den laufenden Einnahmen, sondern über Kredite finanziert werden. Öffentliche Investitionen fließen in die Vermögensgegenstände des Staates, also in Schienen, Stromleitungen und Subventionen für grüne Industrie.

Mit diesen Investitionen wird das Produktionspotenzial der Wirtschaft langfristig gesteigert und hilft dabei, die Transformation zu gestalten. Sie fördern mittel- und langfristig das Wohlstandswachstum und tragen sich selbst.

Allerdings sind die Kosten für die Kreditaufnahme unter den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. Deshalb ist es darüber hinaus notwendig, eine gemeinsame europäische Institution zu schaffen, mit deren Hilfe große gemeinsame europäische Projekte finanziert werden können.

Ein grundlegender Wandel unserer Verkehrs- und Energieinfrastruktur ist ein gemeinsames Ziel, das in hohem Maße zur Erreichung des Ziels der Klimaneutralität beiträgt. Diese Infrastruktur sollte durch eine gemeinsame europäische Kreditaufnahme finanziert werden.

Mit der Schaffung eines europäischen Finanzministeriums können wir endlich die wirtschafts- und währungspolitische Integration vollenden. Diese Institution wäre unser stärkster Partner, um kommende Krisen abzuwenden oder deren Folgen für Europas Wirtschaft und Demokratien zu bekämpfen.

Dafür brauchen wir proaktive Mitgliedstaaten und eine proaktive EU. Wir müssen Mut beweisen. Die Zeit der kleinen Schritte ist vorbei. Die Krisen verlangen von uns, den großen Wurf zu wagen und die europäische Idee mithilfe eines Jahrzehnts der Zukunftsinvestitionen wiederzubeleben.

Die Autoren:

Dominique Potier (PS) ist Abgeordneter der französischen Nationalversammlung.
Antonio Misiani (PD) ist Mitglied des italienischen Senats und ehemaliger stellvertretender Wirtschafts- und Finanzminister.
Pedro Casares Hontañón (PSOE) ist Abgeordneter und wirtschaftspolitischer Sprecher im spanischen Parlament und zuständig für Wirtschaftspolitik und digitale Transformation bei der PSOE.
Cansel Kiziltepe (SPD) ist Mitglied des deutschen Bundestages und langjährige Finanzpolitikerin.

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