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27.12.2022

18:59

Gastkommentar

Die beste Friedenslösung bleibt ein Sieg der Ukraine

PremiumSchnelle Friedensverhandlungen wären ein Fehler. Der Westen muss seinen Kurs beibehalten und die Ukraine weiter unterstützen, fordern Natalie Samarasinghe und Fred Carver.

Samarasinghe leitet die Lobbyarbeit der Stiftung Open Society Foundations.

Natalie Samarasinghe

Samarasinghe leitet die Lobbyarbeit der Stiftung Open Society Foundations.

Der Raketeneinschlag in Polen im November ließ einen Krieg gegen einen atomar bewaffneten Unrechtsstaat erschreckend greifbar werden. Als das Risiko eines Konflikts zwischen Russland und der Nato nachließ, war die Erleichterung deutlich spürbar.

Die Menschen in Osteuropa leben bereits seit Jahrzehnten mit der Angst vor einer solchen Eskalation. Sie dürfen nicht auf einem Altar der „Deeskalation“ geopfert werden.

Vorerst sieht es so aus, als würde der Vorfall in Polen das Engagement des Westens für die Ukraine nicht beeinträchtigen. Die USA und die europäischen Länder haben ihre militärische und finanzielle Unterstützung bekräftigt, einige haben sogar noch mehr zugesichert.

Die Regierungschefs der G20-Staaten brachten zudem eine Erklärung auf den Weg, in der sie den „Krieg in der Ukraine“ verurteilten. Das war zwar eine recht schwache Stellungnahme, die jedoch als Zeichen dafür gewertet wurde, dass die Geduld unter Russlands Verbündeten langsam am Ende ist.

Chinas Präsident Xi sprach sich auf Bali gegen den Missbrauch von Nahrungsmitteln und Energie als „Waffen“ aus, und sein französischer Kollege Macron forderte mehr Einsatz von ihm, Russland zu einer Deeskalation zu bewegen.

Auch der Frieden hat einen humanitären Preis – wir sollten nicht jeden bezahlen

Doch was genau wäre in letzter Konsequenz das Ziel der Deeskalation? Der ukrainische Präsident Selenski hat deutlich gemacht, dass es für sein Land um Souveränität und territoriale Integrität, den Abzug der russischen Truppen, die Rechenschaftspflicht für die massenhaften Kriegsverbrechen und die Wiedergutmachung der entstandenen Schäden geht.

Die Menschen in Cherson feierten die Befreiung der Stadt durch die ukrainische Armee. dpa

Soldaten in Cherson

Die Menschen in Cherson feierten die Befreiung der Stadt durch die ukrainische Armee.

Andere blieben, wie der britische Premierminister Sunak, bei vagen Formulierungen, man müsse die Ukraine in die „stärkstmögliche Position“ bringen.

Vielerorts dürften in Europa die Aufrufe zu einem Kompromiss zunehmen, da eine Konfrontation droht und Russlands Einmarsch die Wirtschaft verschiedener Länder belastet. Führende Staatsmänner – und das scheint tatsächlich ein vornehmlich männliches Phänomen zu sein – aus Entwicklungsländern stehen seit Monaten Schlange, um den Friedensstifter zu spielen.

Das wäre ein Fehler. Es ist nicht leicht, ein humanitäres Argument gegen Friedensgespräche vorzubringen. Das Leben vieler Menschen in der Ukraine wurde zerstört. Ein Drittel der Bevölkerung ist aus dem Land geflohen. Die Zurückgebliebenen legen Zeugnis ab von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, und die Umweltschäden werden noch jahrelang zu spüren sein.

Weltweit hat das Vorgehen Russlands eine Krise der Lebenshaltungskosten ausgelöst, die Staaten mit niedrigem Einkommen an den Rand des Abgrunds gedrängt hat. Dutzende von Regierungen könnten zahlungsunfähig werden oder auseinanderbrechen.

Aber gerade aus humanitären Gründen müssen wir den Versuchen widerstehen, die Ukraine um jeden Preis zum Frieden zu zwingen. Wir beide haben in den letzten zehn Jahren dargelegt, dass „Konfliktprävention“ und „Verhinderung von Gräueltaten“ nicht ein und dasselbe sind. Leider gehen der schnellste Weg zum Frieden und der Schutz von Zivilpersonen nicht immer Hand in Hand.

In der Ukraine dürfte die Befreiung weiterer Gebiete, der Schutz der dort lebenden Menschen und das Zurückdrängen der russischen schweren Artillerie aus Ballungsgebieten den Konflikt in die Länge ziehen. Aber wenn sich damit weitere Gräueltaten wie die von Bucha und Mariupol verhindern lassen, ist es vernünftig, dass die Ukraine sich für diesen Weg entscheidet.

Die ukrainische Bevölkerung muss entscheiden, wann der Zeitpunkt für Verhandlungen gekommen ist

Die westlichen Länder haben eine erschreckende Bilanz bei der Inkaufnahme von Gräueltaten in Entwicklungsländern im Namen der „Geopolitik“. Allzu oft haben sie ohne wirklich langfristiges Engagement interveniert oder eingefrorene Konflikte aus Eigennutz begünstigt.

Das ist nicht akzeptabel, weder in Entwicklungsländern noch in der Ukraine. Der Westen muss seinen Kurs beibehalten – mit rechtzeitiger militärischer und humanitärer Unterstützung, Sanktionen und verstärktem Einsatz für Rechenschaft und Wiedergutmachung.

Ebenso sollten die Regierungen des Südens den Druck auf Russland erhöhen, sich aus der Ukraine zurückzuziehen. Aus den UN-Abstimmungen geht eindeutig hervor, dass die große Mehrheit der Staaten die russische Aggression verurteilt. Die Regierenden müssen eingestehen, dass ein Frieden um jeden Preis, der der Ukraine Gerechtigkeit verweigert, gegen genau die Regeln verstößt, deren Einhaltung sie verlangen.

Putin hat wiederholt klargemacht, dass er nur dann Zugeständnisse macht, wenn er dazu gedrängt wird.

Letztlich ist es an der ukrainischen Bevölkerung zu entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt – und die richtigen Bedingungen – für Verhandlungen gekommen ist. Der am wenigsten grausame und sehr wahrscheinlich auch der schnellste Weg zu einem dauerhaften Frieden ist, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer Russland zum Rückzug zwingen. Wir müssen hinter ihnen stehen.

Die Autoren: Natalie Samarasinghe leitet die Lobbyarbeit der Stiftung Open Society Foundations. Fred Carver ist Geschäftsführer der Beratung Strategy for Humanity.

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