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17.10.2021

17:39

Gastkommentar

Die Billionen-Herausforderung

PremiumUm Klimaschutz und Digitalisierung voranzutreiben, müssen die Eigenkapitalregeln der Kreditinstitute geändert werden, fordert Liane Buchholz.

Professorin Liane Buchholz ist Präsidentin des Sparkassenverbandes Westfalen-Lippe. Foto: Sparkassenverband Westfalen-Lippe ( Handelsblatt-Montage)

Die Autorin

Professorin Liane Buchholz ist Präsidentin des Sparkassenverbandes Westfalen-Lippe.

Foto: Sparkassenverband Westfalen-Lippe (Handelsblatt-Montage)

Das Ergebnis der Bundestagswahl offenbart die Forderung breiter Bevölkerungskreise nach neuen Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Es war besonders der gesellschaftliche Diskurs über Digitalisierung und Klimaneutralität, der die Kräfteverhältnisse in der Parteienlandschaft verändert hat. Symptomatisch ist, dass mit Grünen und FDP gerade jene zwei Parteien die Sondierungsgespräche eröffnet haben, die für sich jeweils die Meinungsführerschaft bei diesen Themen beanspruchen.

Überraschend ist das nicht. Die Transformation, als Oberbegriff dieser zwei Megatrends, ist das alles beherrschende Thema. Jüngste Ereignisse wie die Corona-Pandemie sowie die Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen haben daran großen Anteil. Sie machten die drängendsten Probleme unübersehbar. Die Notwendigkeit zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation stößt darum heute auf einen breiten Konsens. Für die anstehenden Koalitionsverhandlungen gibt es deshalb zumindest eine Gewissheit: An den Themen Digitalisierung und Klimaneutralität kommt niemand vorbei.

Vor diesem Hintergrund müssen sich die künftigen Regierungsparteien die zentrale Frage stellen, woher die gigantischen Summen für den „Strukturwandel 4.0“ in Deutschland eigentlich kommen sollen. Eine große Unternehmensberatung hat errechnet, dass Deutschland sechs Billionen Euro benötigt, um bis 2045 klimaneutral zu werden. Das entspricht pro Jahr rund 250 Milliarden Euro oder etwa siebeneinhalb Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Die Kreditwirtschaft in Nordrhein-Westfalen hat mit Unterstützung des Instituts der Deutschen Wirtschaft in einer Analyse vergleichbare Werte ermittelt. Danach dürften allein in NRW sieben bis acht Prozent des Landes-BIP für Klimaschutzinvestitionen notwendig sein. Für die Digitalisierung kommen jährlich gut 2,5 Prozent hinzu. Zusammengefasst erfordert die Transformation also pro Jahr Investitionen in Höhe von etwa zehn Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung.

Die Transformation richtig finanzieren

Diese Zahl lässt nicht nur den Streit über die Erhöhung der deutschen Nato-Beiträge in Richtung zwei Prozent des BIP beinahe verblassen. Es führt inzwischen auch kein Weg mehr an der Erkenntnis vorbei: Mit der Transformation steht uns eine Aufgabe von nationaler Bedeutung bevor. Deutschland ist stark genug, diese Aufgabe zu bewältigen. Die Wiedervereinigung hat Schätzungen zufolge zwei Billionen Euro gekostet und dem vereinten Deutschland einen starken Platz in der Europäischen Union gesichert.

Die Transformation in den Bereichen Digitalisierung und Klimaneutralität wird geschätzt die dreifache Summe erfordern, um die Wettbewerbsfähigkeit und den Wohlstand unseres Landes zu sichern. Gleichzeitig signalisieren die gigantischen Summen, dass es ohne öffentliche Hand und Kreditwirtschaft nicht gehen wird. Darum appelliere ich an die Koalitionspartner der kommenden Bundesregierung, die passenden Rahmenbedingungen für eine gelungene Transformationsfinanzierung in ihrem Vertragswerk zu berücksichtigen, um der nationalen Aufgabe das nötige Gewicht zu geben.

Der Kampf gegen die Corona-Pandemie liefert hierfür ein geeignetes Lösungsmuster: Gesetzgeber, Bankenaufsicht, Förderbanken und Hausbanken arbeiteten beinahe idealtypisch zusammen. Zunächst schufen Bundesregierung und Bankenaufsicht die Voraussetzungen dafür, dass milliardenschwere Liquidität dorthin gelangen konnte, wo sie dringend benötigt wurde. In einer zweiten Phase kamen Bankkunden über ihre Hausbanken schnell an die Corona-Kredite der Förderbanken. In der dritten Phase erhöhten Banken und Sparkassen ihre Kreditvolumina deutlich.

Auch bei der Transformation hin zu einer klimaneutralen und digitalen Gesellschaft brauchen wir dieses kongeniale Zusammenspiel sowie eine „Entfesselung mit Augenmaß“. Der Ort, um diese Entwicklung einzuleiten, ist der Deutsche Bundestag. In seine Kompetenz fällt es, die Rahmenbedingungen für den Transformationsprozess zu schaffen. Regulierer beziehungsweise Aufsicht können dann darauf aufbauend die passenden Spielräume schaffen. Dies und das gelungene Zusammenspiel aus Gesetzgebung, Regulierung und Kreditwirtschaft sollten deshalb fester Bestandteil im Koalitionsvertrag der nächsten Bundesregierung sein.

Wir brauchen ein Entfesselungspaket

Es muss jetzt darum gehen, die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit unseres Landes voll zu entfesseln – nicht zuletzt durch einen neuen Rahmen für die Kapitalanforderungen von Kreditinstituten. Unter den jetzigen Bedingungen reicht die Kapitalisierung der Hausbanken nicht, um die Transformation zu finanzieren.

Wie sich dieses Problem lösen lässt, deutet der europäische Regulierungsrahmen Capital Requirements Regulation (CRR) an. Er sieht eine Eigenkapital-Privilegierung von europäisch bedeutsamen Infrastrukturfinanzierungen vor, etwa in den Bereichen Breitband und Energie, erneuerbare Energien, Energieeffizienz und E-Mobilität. Vor allem für die deutsche Wirtschaftsrealität ist die CRR allerdings noch zu grob gefasst.

Wie also könnte ein konkreter Lösungsansatz aussehen? Es sollte ein Transformationsfaktor bei der Eigenmittelunterlegung von Krediten für Zwecke der Digitalisierung und Klimaneutralität geschaffen werden. Ein solcher Faktor würde für Kapitalentlastungen bei der Kreditvergabe sorgen. So ließen sich Milliarden Euro an zusätzlichen Darlehen vergeben und der Strukturwandel beschleunigen – bei gleichzeitiger Schonung der öffentlichen Mittel. Natürlich müssten für den Transformationsfaktor strenge Finanzierungskriterien festgelegt werden. Die CRR gibt aber auch hier schon eine Richtung vor.

Der Handlungsdruck für ein Entfesselungspaket nationaler Bedeutung ist groß, denn Deutschland hat enormen Aufholbedarf. Faxgeräte in Gesundheitsämtern, ruckelnde Videokonferenzen und fehlende virtuelle Erreichbarkeit von Bürgerämtern in den Lockdowns sind Chiffren für den unwürdigen Digitalstatus einer Industrienation, die sich selbst nach wie vor als Vorreiter sieht.

Entscheidend ist Veränderungsbereitschaft

Der aktuelle Sparkassen-Digitalisierungsindex für Nordrhein-Westfalen, der den Digitalisierungsgrad kleiner und mittlerer Unternehmen misst, hat den Zustand in einer einzigen Zahl zusammengefasst: 4,3 von zehn möglichen Punkten. Nachholbedarf besteht also nicht nur in der öffentlichen Verwaltung. Auch beim Klimaschutz muss Deutschland Tempo machen, sonst kommen uns die Folgen der Klimakrise und der Verlust technologischen Vorsprungs teuer zu stehen.

Nur wenn wir uns an Klimaschutz-Lösungen beteiligen, werden wir in neuen, innovativen Märkten eine Rolle spielen. Deutschland hat seine Stärken stets in der Erforschung und Entwicklung zukunftsfähiger Technologien ausgespielt. Es muss unser Anspruch sein, die Rolle des technologischen Treibers auch beim Klimaschutz zu übernehmen. Was wir darum jetzt gar nicht brauchen, ist ein Verharren im „Weiter so“. Der Sand muss raus aus dem Getriebe. Wir brauchen einen Pakt der Veränderungsbereitschaft.

Die Autorin: Prof. Liane Buchholz ist Präsidentin des Sparkassenverbandes Westfalen-Lippe.

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