Handelsblatt App
Jetzt 4 Wochen für 1 € Alle Inhalte in einer App
Anzeigen Öffnen
MenüZurück
Wird geladen.

05.01.2022

04:00

Gastkommentar

Die Liberalen müssen ihr Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen überwinden

Die FDP entdeckt ihre sozialliberalen Wurzeln wieder. Allerdings muss die Partei klären, welches Freiheitsverständnis ihrer Politik zugrunde liegt, analysiert Gerhart Baum.

Gerhart Baum (FDP) ist Rechtsanwalt und war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister. imago images/Reiner Zensen

Der Autor

Gerhart Baum (FDP) ist Rechtsanwalt und war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister.

Die FDP ist auf dem Weg, ihr Profil zu schärfen. Sie ist dabei, Positionen zu korrigieren und vergessene Themen wiederzubeleben. Sozial, ökologisch und liberal, das ist eine gute Mischung. In der Ampelregierung werden sich SPD, Grüne und FDP verändern – und zugleich ihre Identität bewahren. Denn nur so können sie das Land modernisieren.

Nach einem strategisch klugen Wahlkampf, in dem die FDP sich vom politischen Lagerdenken befreit hat, stößt die Beteiligung der Liberalen an der Regierung in weiten Bevölkerungskreisen auf Zustimmung. Parteichef Christian Lindner hat besonders die wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenz der FDP hervorgehoben. Doch die Kompetenz reicht weiter.

Im FDP-geführten Bundesjustizministerium etwa beginnt man mit der Arbeit: Abschaffung des Paragrafen 219 a (Werbung für den Schwangerschaftsabbruch) und der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, Reform des Wahlrechts, Einführung einer Verantwortungsgemeinschaft, Verteidigung der digitalen Bürgerrechte – das ist liberale Handschrift.

Eines jedoch ist noch nicht erledigt: Die Partei muss klären, welches Freiheitsverständnis ihrer Politik zugrunde liegt.

Misstrauen gegen staatliche Eingriffe ist zwar ein Wesensmerkmal der Liberalen. Aber das darf nicht gelten, wenn auf Schutz nicht verzichtet werden kann. Freiheit muss mit Verantwortung einhergehen und das Gemeinwohl im Auge haben. Das hat die FDP bei der Pandemiebekämpfung nicht immer hinreichend berücksichtigt.

Man muss zwischen Geimpften und Ungeimpften unterscheiden

Jetzt ändert sie deutlich ihre Position. Gravierende individuelle Grundrechtseinschränkungen müssen hingenommen werden, wenn es um den Schutz von Leben und Gesundheit geht. Das ist ein „Höchstziel“ unserer Verfassung.

Der Tote verliert seine Freiheitsrechte schließlich unwiederbringlich. Ohne Gegenmaßnahmen, vor allem Impfungen, gäbe es noch viel mehr Coronatote. Deshalb ist es unverzichtbar, zwischen Geimpften und Ungeimpften zu unterscheiden.

Wir brauchen das Instrument einer Impfpflicht, die an die Verhältnismäßigkeit gebunden ist. Das sehen inzwischen auch führende Vertreter der FDP so. Mit einer prominenten Ausnahme: Vize-Parteichef Wolfgang Kubicki hat die Pandemiegefahr lange verharmlost – und trägt mit seiner einseitigen Interpretation des Freiheitsbegriffs dazu bei, dass Leben und Gesundheit gefährdet werden.

Er gibt vor, die Menschenwürde der Ungeimpften zu verteidigen. Sie ist aber gar nicht in Gefahr. Es sind die Ungeimpften, die die Menschenwürde aller anderen gefährden – das ist das Gegenteil von verantwortlicher Solidarität.

Kubicki begibt sich auf das Gebiet der Demagogie, wenn er behauptet, die Mehrheitsgesellschaft übe an den Ungeimpften „Rache und Vergeltung“. Rache und Vergeltung wofür eigentlich?

Mit solchen demagogischen Formulierungen spricht er ein Milieu an, das über die Impfgegnerschaft hinaus ganz anderes im Sinne hat. Ich fordere eine klare Distanzierung der FDP-Gremien von dieser Haltung.

Die Behauptung, die Corona-Impfstoffe seien gefährlich, widerspricht schließlich allen Erkenntnissen der Wissenschaft. Im Übrigen können Ungeimpfte ihre „Benachteiligung“ sofort beenden, wenn sie sich impfen lassen.

Auch auf anderen Feldern müssen die Liberalen ihr Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen überwinden. Über lange Jahre hat die FDP den Umweltschutz sträflich vernachlässigt. Umweltschutz wurde als freiheitseinschränkender Wachstumskiller gesehen – welch ein Irrtum! Dieser Irrtum ist umso erstaunlicher, weil gerade die FDP in den 1970er-Jahren die erste deutsche Umweltpartei war und Grundlagen für den heutigen Umweltschutz gelegt hat.

Liberales Streben nach sozialer Gerechtigkeit

Es steht außer Frage, dass die Bekämpfung der Klimakatastrophe lieber heute als morgen freiheitseinschränkende Regeln erfordert, dazu zählen auch Verbote. Die Freiheitseingriffe müssen gerecht auf die Generationen verteilt werden, fordert der wegweisende Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts.

Die Ampelregierung dürfte dazu beitragen, so meine Hoffnung, den „sozialen Liberalismus“ wiederzubeleben, der die FDP in den 1970er-Jahren mit eindrucksvollen Repräsentanten wie Werner Maihofer, Ralph Dahrendorf und Karl-Hermann Flach prägte. Die FDP der „Freiburger Thesen“ von 1971 hatte den Menschen und seine Selbstverwirklichung zum Ziel – verknüpft mit gesellschaftlicher Verantwortung und dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit.

„Der gerechte Anteil am Vermögenszuwachs“, so hieß es in den Thesen, „ist die Freiheitsfrage schlechthin.“ Das Eigentum wurde garantiert, aber in seiner vom Grundgesetz vorgegebenen „Sozialpflichtigkeit“ gesehen. Der Ampel-Koalitionsvertrag atmet den Geist einer solchen Politik, wie beispielsweise das Bürgergeld und die Aktienrente belegen. Es gibt also Anknüpfungspunkte an die sozialliberale Politik der 1970er-Jahre.

Die wichtigste Parallele zwischen damals und heute: Die Bundesrepublik braucht(e) dringend Reformen. Die Ampel muss eine Fortschrittskoalition werden, die unsere Gesellschaft kräftig durchlüftet.

So war es seinerzeit auch nach 20 Jahren CDU-Kanzlerschaft. Vieles hat sich seitdem geändert. Die Bindungswirkung der Volksparteien lässt nach. Dreierkoalitionen werden zur Regel, endlich haben FDP und Grüne zu einer vernünftigen Kooperation gefunden.

Die Grünen sind nicht immer zukunftsorientiert

Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers trat kürzlich mit der These hervor, es gebe „nun zwei liberale Parteien“, die linksliberalen Grünen und die eher konservative FDP. Das seien die zwei Flügel des einen liberalen Projekts.

Den Grünen, so Möllers, gehe es vor allem um den langfristigen Schutz der Freiheit, die FDP hingegen konzentriere sich nicht auf das perspektivische „Sollen“, sondern auf das kurzfristige „Wollen“. Doch diese Rollenbeschreibung ist falsch: Zum einen ist die FDP nicht perspektivlos, zum anderen sind die Grünen nicht immer zukunftsorientiert.

Entscheidend ist vielmehr ein anderer Unterschied: das Freiheitsverständnis. Freiheit in Verantwortung für andere ist für Liberale das Leitmotiv ihrer Politik, während bei den Grünen Freiheit neben anderen Zielen wie Frieden und Nachhaltigkeit rangiert.

Die Grünen vertreten politische Ziele, die aus liberaler Sicht zustimmungsfähig sind. Auch sie setzen sich für Freiheit und Demokratie ein. Was ihnen jedoch fehlt, ist das liberale Leitmotiv. Für die Grünen ist es im Zweifel der Staat, der die Freiheit schafft.

Für Liberale ist Freiheit zunächst einmal von vornherein da. „Wir werden frei geboren, um frei zu sein“, formulierte die politische Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt. Liberale unterwerfen Entscheidungen einer strikten Freiheitsverträglichkeitsprüfung. Einschränkungen sind nur das letzte Mittel. Die FDP hat jetzt die Chance, ihr Freiheitsprofil zu schärfen.

Der Autor: Gerhart Baum (FDP) ist Rechtsanwalt und war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister.

Direkt vom Startbildschirm zu Handelsblatt.com

Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.

Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.

×