Trotz ihres 70-jährigen Bestehens hat die Nato gerade wenig Grund zu feiern. Das westliche Bündnis steht von mehreren Seiten unter Druck.
Der Autor
Nick Witney ist Senior Policy Fellow beim internationalen Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR).
Bild: Getty Images (M)
In dieser Woche treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Nato-Länder zum 70-jährigen Bestehen der Organisation in Großbritannien. In der Vergangenheit wäre es wohl eine feierliche Selbstbeweihräucherung gewesen – man denke nur an den 60. Geburtstag des Bündnisses, der auf beiden Seiten des Rheins mit großem Pomp gefeiert wurde.
Zehn Jahre später könnte die Stimmung unterschiedlicher nicht sein: Die Organisatoren konzentrieren sich vor allem auf Schadensbegrenzung als auf Festlichkeiten.
Seit dem desaströsen Nato-Gipfel in Brüssel vergangenes Jahr macht sich ein Gefühl der Beklemmung breit: Erst drohte US-Präsident Trump, sein Land aus dem Bündnis zurückzuziehen, dann bezeichnete er die EU als „Feind“ und verdünnisierte sich alsbald nach Helsinki, um seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin erstmals bilateral zu treffen.
Der Nato-Gipfel in Großbritannien wird daher von allen Beteiligten heruntergespielt. Die Feierlichkeiten zum Jubiläum sind nicht mehr als ein Abendempfang im Buckingham Palace, während sich die eigentlichen Gespräche auf drei Stunden in einem Hotel im Norden Londons beschränken. Es ist aber nicht nur der US-Präsident, der seine Nato-Kollegen verschreckt.
Emmanuel Macrons Interview mit dem „Economist“ – in dem er dem Bündnis einen „Hirntod“ bescheinigte – erregte die feinen Gemüter in den europäischen Machtzentren. Was folgte, war ein Lobgesang auf die transatlantische Einheit und die angebliche Unentbehrlichkeit der Nato, den vor allem deutsche Politiker anstimmten.
Doch betrachtet man zwei wesentliche Militärmächte dieser Allianz – die USA und die Türkei –, die keinen Grund dafür sehen, ihre Verbündeten zu konsultieren, ehe sie eine neue Runde des Blutvergießens im Nahen Osten einleiten, scheint Macrons Kommentar doch näher an der Wahrheit als gedacht. Macrons Timing, kurz vor Trumps neuerlicher Ankunft in Europa, war dennoch wenig taktvoll.
Deutschland hat mit dem Vorschlag einer Expertengruppe, die die Nato reformieren soll, Macrons Verbalattacken kurzerhand den Wind aus den Segeln genommen. Trump auf der anderen Seite ist weniger gut zu steuern, und der Erfolg des Gipfels wird im Wesentlichen davon abhängen, ob sich der US-Präsident auf Lobreden beschränken wird, dass seine Interventionen die Verbündeten zu verstärkten Anstrengungen veranlasst haben.
Wird er also als „triumphaler Führer“ auftreten oder doch wieder die „Trittbrettfahrer“ auf der Weltbühne geißeln? All das vor dem Hintergrund, dass daheim ein Amtsenthebungsverfahren auf ihn wartet und Trump sich auf die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr vorbereiten muss.
Wie der US-Präsident sich auf dem Gipfel verhält, hängt aber auch von der wichtigen Parlamentswahl in Großbritannien am 12. Dezember ab. Trump hat bereits seine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass Boris Johnson, unterstützt von Nigel Farage, als Wahlsieger den EU-Austritt vollziehe.
Für Trump ist der Brexit ein großer Triumph seines Ethno-Nationalismus, ein verheerender Schlag für die EU und eine Gelegenheit, Großbritannien ein Handelsabkommen aufzuzwingen, das seine Agrar- und Gesundheitsmärkte öffnet. Trump kann diese Entwicklungen zu seinem innenpolitischen Vorteil nutzen, falls Johnson die Wahl gewinnt und der Brexit Ende Januar tatsächlich stattfindet.
Als britischer Patriot und stolzer Europäer hoffe ich natürlich auf ein Ergebnis im Dezember, das nicht in einer von Johnson forcierten Brexit-Katastrophe, sondern zu einem zweiten Referendum führt. Angesichts beispielloser globaler Herausforderungen und mit Blick auf die Zukunft dessen, was wir die „westlichen Werte“ nannten, müssen wir als Europäer gemeinsam unsere Interessen vertreten.
Der Nato-Gipfel bietet die Gelegenheit zu einem konstruktiven und ehrlichen Dialog. Doch der wird nur möglich sein, wenn die Staats- und Regierungschefs die Frage der nun mehr unverlässlichen US-Sicherheitsgarantien nicht umgehen. Ein offenes Gespräch über dieses Thema auf einem potenziell konfliktreichen Gipfel könnte als Weckruf an die Europäer dienen, endlich das zu tun, was sie tun sollten: ihre eigene Zukunft sichern.
Wir hoffen also auf eine schwungvolle Zusammenkunft der europäischen Staats- und Regierungschefs. Ein erneut desaströser Nato-Gipfel würde uns allen zeigen, wie sehr sich die Welt verändert hat. Jeder in Europa, angefangen bei Großbritannien, muss sich dieser Realität bewusst werden.
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