PremiumEuropa sollte beim Umbau seiner Handelsbeziehungen die Welt nicht in Freund und Feind einteilen, rät Veronika Grimm.
Veronika Grimm
Die Autorin ist Professorin für Wirtschaftstheorie an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Bild: Statistisches Bundesamt/Bildkraft
Die aktuelle Bedrohung durch einen russischen Gas-Lieferstopp dominiert die politische Debatte. Horrorszenarien werden an die Wand gemalt, sogar Massenarbeitslosigkeit und Gelbwestenproteste herbeigeredet. Die Bedrohungs-Szenarien überdecken – gewollt oder ungewollt – einige der Herausforderungen, die ohnehin auf uns zukommen. Wir stehen am Beginn eines Jahrzehnts, in dem wir bei hohen Energiepreisen, einem Krieg in Europa, Rohstoffengpässen, Fachkräftemangel und Inflation den wohl radikalsten Umbau der Wirtschaft gestalten müssen, den die Menschheit seit der Industrialisierung erlebt hat.
Trotz dieser unmittelbaren Herausforderungen kommt es jetzt darauf an, mit Weitblick neue Weichenstellungen vorzunehmen. Dabei müssen wir insbesondere unsere Partnerschaften und Handelsbeziehungen überdenken. Denn der Angriff Russlands auf die Ukraine beschleunigt die Erosion der regelorientierten Weltordnung und damit die Basis der Globalisierung. An deren Stelle tritt zunehmend eine machtbasierte Weltordnung, in der das Recht des Stärkeren gilt.
Wir müssen also gewappnet sein, unsere Freiheit zu verteidigen. Verteidigungsfähigkeit bekommt eine neue Priorität – bei den Staatsausgaben, aber auch in den Köpfen der Menschen. Für die Verteidigungsfähigkeit spielen neben der Armee auch ökonomische Stärke sowie die Resilienz von Wirtschaft und Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Klar ist, dass wir unsere Beziehungen zu Russland radikal neu ordnen müssen. Aber auch China ändert seine Strategie gegenüber dem Westen, teils unter dem Deckmantel der Coronapandemie.
Deshalb müssen wir unsere Abhängigkeit von Exporten nach China, aber auch von weiterverarbeiteten kritischen Rohstoffen, die wir von dort beziehen, verringern. Wäre der Zugriff auf kritische Rohstoffe gefährdet, könnte beispielsweise die Transformation zur Klimaneutralität nicht gelingen. Das alles wird die Kostenstrukturen in Deutschland verändern. Energieunabhängigkeit von Russland etwa bedeutet: Die Preise fossiler Energieträger – und insbesondere von Gas – werden auch mittelfristig nicht auf das ursprüngliche Niveau zurückkehren.
In dieser schwierigen Gemengelage stehen nun herausfordernde Entscheidungen an. Unumstritten ist, erneuerbare Energien und die notwendigen Transportinfrastrukturen schnellstmöglich auszubauen. Dabei müssen wir europäisch denken, um gemeinsam das größtmögliche Potenzial für die Energiesicherheit des Kontinents zu heben. Wir stehen aber auch vor einer umfassenden Transformation der Industrie und der konventionellen Stromerzeugung, die auf Gas als Brückentechnologie setzt. Das ist deutlich herausfordernder.
Woher beziehen wir künftig Gas und zu welchem Preis? Sollen wir tatsächlich schon gegen 2030 aus der Kohleverstromung aussteigen? Wer baut die dann nötigen Gaskraftwerke? Und woher kommt der klimaneutrale Wasserstoff, der das Gas auf Dauer ablösen soll? Hier werden wir auf umfangreiche Importe angewiesen sein. Reist man etwa nach Australien, Schottland, Norwegen oder den Nahen bzw. Mittleren Osten, lernt man: Diese Länder können uns künftig erneuerbare Energien liefern, in Form von Wasserstoff oder darauf basierenden Energieträgern, per Schiff oder Pipeline.
Hinzu kommt: Kapitalgeber stehen bereit, um Großprojekte und den Aufbau der Transportpfade zu finanzieren. Aber der Ball liegt bei uns – all das wird nur in Gang kommen, wenn wir langfristige und großvolumige Lieferverträge abschließen. Es müssen also weitreichende Entscheidungen getroffen werden, um den Import erneuerbarer Energieträger einzuleiten. Um die anfangs noch bestehende Lücke zwischen den Beschaffungskosten klimafreundlichen Wasserstoffs und den Zahlungsbereitschaften europäischer Abnehmer zu schließen, wird staatliche Unterstützung nötig sein. Das gilt auch für die Anbahnung und Absicherung der Verträge.
Neben Ländern, die bereits heute fossile Energie exportieren, ihre Zukunft aber in der Ausfuhr erneuerbarer Energieträger sehen, gibt es andere, die geradezu prädestiniert für den Export erneuerbarer Energien sind, etwa in Afrika oder Südamerika. Um viele neue Energiepartnerschaften aus- und aufbauen zu können, ist europäische Kooperation unabdingbar. Denn jede Partnerschaft muss einhergehen mit der Vereinbarung großer Importmengen, um Skaleneffekte zu nutzen und die Energiekosten niedrig zu halten.
Diversifikation der Lieferbeziehungen einzelner europäischer Staaten gelingt besser bei gemeinsamer Beschaffung im europäischen Verbund und entsprechend größerer Nachfrage. Es gibt also bei der Energieversorgung ein beträchtliches Potenzial, unsere Abhängigkeiten abzubauen, um künftig nicht ähnlich erpressbar zu sein, wie das gerade bei russischem Gas der Fall ist. Werden wir dabei die Energiebeschaffung und unsere Handelsbeziehungen auf „freundliche“ Staaten konzentrieren können? Erhebliche Zweifel sind angebracht.
Während in den westlichen Industriestaaten 1950 noch fast 29 Prozent der Weltbevölkerung lebten, waren es 1998 nur noch 18 Prozent. Im Jahr 2050 werden Europa und Nordamerika weniger als zwölf Prozent der Weltbevölkerung beherbergen. Wollen wir uns wirklich von einem Großteil der Welt entkoppeln und so neben wirtschaftlichen Verlusten auch Macht und Einfluss verlieren? Das könnte letztlich sogar dazu führen, dass geopolitische Krisen und Konflikte wahrscheinlicher werden.
Die Einteilung der Welt in „Freund“ und „Feind“ ist zudem zu statisch gedacht und ignoriert die Vielschichtigkeit zwischenstaatlicher Beziehungen. Statt uns abzukoppeln, sollten wir im Gegenteil einseitige Abhängigkeiten durch die Diversifikation unserer Handelsbeziehungen reduzieren und es für möglichst viele Staaten attraktiv machen, mit uns auf der Basis einer regelbasierten Weltordnung zusammenzuarbeiten. Das wird allerdings nicht gelingen, wenn wir ihnen unsere Werte aufoktroyieren wollen.
Erforderlich ist vielmehr eine Kooperationen auf Augenhöhe. Ausgehend von neuen Energiepartnerschaften sind durchaus weiter gehende Formen der Zusammenarbeit denkbar. So könnten etwa der Aufbau dieser neuen Lieferketten und der Ausbau der Energieversorgung in Kooperation mit europäischen Firmen erfolgen. Außerdem sollten – auf der Energiepartnerschaft aufbauend – Handelsbeziehungen zum beidseitigen Vorteil intensiviert werden.
Im globalen Wettbewerb wird es – nicht zuletzt wegen der Propaganda von Autokratien – zwar nicht selbstverständlich sein, dass unser Gesellschaftsmodell gleichsam automatisch höchste Anziehungskraft entfaltet. Ein Blick in die Geschichte legt aber nahe, dass Gesellschaften, in denen die Menschen darauf vertrauen können, die Früchte ihrer Arbeit zu ernten, erfolgreicher sind als solche, die zentral planen und von den Menschen nur Leistungen einfordern. Auf diese Stärken, die uns in der Welt zu einem attraktiven Partner machen, sollten wir bei allen Herausforderungen bauen.
Trotz der Neuordnung der Welt nach Putins Krieg darf nicht aus dem Blick geraten, dass globale öffentliche Güter wie Gesundheit oder Klimaschutz immer größere Bedeutung bekommen. Multilateralismus ist deshalb wichtiger denn je.
Die Autorin: Veronika Grimm lehrt Volkswirtschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und ist Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
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