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19.10.2020

16:52

Gastkommentar

Digital Services Act – Die EU muss die Demokratie im Netz schützen

Von: Renate Künast, Alexandra Geese

PremiumMit dem neuen europäischen Gesetz für die digitalen Dienste kann die EU die Lücken nationaler Regelungen schließen. Es ist ihre Chance, weltweite Standards zu setzen.

Grüne Digitalexpertinnen: Renate Künast (l.), Bundestagsmitglied für Bündnis 90/Die Grünen, und Alexandra Geese, Mitglied des Europäischen Parlaments als Teil der Fraktion Die Grünen/EFA. dpa, Bündnis 90 Die Grünen, Montage

Die Autorinnen

Grüne Digitalexpertinnen: Renate Künast (l.), Bundestagsmitglied für Bündnis 90/Die Grünen, und Alexandra Geese, Mitglied des Europäischen Parlaments als Teil der Fraktion Die Grünen/EFA.

Was haben Reichskriegsflaggen bei Anti-Corona-Demonstrationen, Falschzitate von Politikern und Politikerinnen oder der Aufruf zum Wahlbetrug von US-Präsident Donald Trump auf Twitter gemeinsam? Sie stellen unsere Demokratie auf eine der härtesten Proben.

Denn das Internet ist ein zentraler Ort demokratischer Aushandlungsprozesse geworden und schon lange nicht mehr der bunte Garten der Freiheit, in dem Blogs durch offene Pforten die pluralistischste Informationslandschaft unserer Geschichte ermöglichten.

Die Netzwelt wird längst von wenigen großen Konzernen beherrscht – mit vorgegebenen Pfaden, den Empfehlungsmechanismen von Google, Facebook, Amazon und anderen. Sie entscheiden darüber, wer wann welche Nachrichten sieht, verbreiten Verschwörungstheorien, vernetzen Extremisten und befördern populistische Meinungen. Das alles lassen wir sehenden Auges zu.

Sollten aus den Fehlern nationaler Gesetze lernen

Wir gestatten den Plattformen, ihre eigenen Regeln aufzustellen und sie an werbefinanzierten Geschäftsmodellen auszurichten. Wir tolerieren, dass sie die gesellschaftliche Polarisierung anheizen, dass sie Nachrichten gezielt selektieren und dass sie dafür keine Verantwortung tragen müssen. Mit einem neuen europäischen Gesetz für die digitalen Dienste, dem Digital Services Act, soll sich das ändern.

Wir meinen, es ist an der Zeit, die großen Systemfragen zu stellen und dabei aus den Fehlern nationaler Gesetze wie des deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) zu lernen. Das bedeutet: Wir müssen klare Regeln für nutzerfreundliche Beschwerdeverfahren, aussagekräftige Transparenzpflichten und starke Aufsichtsstrukturen schaffen.

Wir müssen die großen Lücken, die das NetzDG hat, schließen. Messengerdienste wie Telegram und Chats von Online-Games sind in Deutschland bisher von der Regulierung ausgenommen. Damit laden sie zum Beispiel Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker ein, in die unregulierten Bereiche auszuweichen. Europa hat die Chance und die Aufgabe, weltweite Standards für den Umgang mit Hass und Hetze sowie Desinformation im Netz zu setzen.

Müssen Transparenz über Algorithmen herstellen

In den Ausschüssen des Europäischen Parlaments wurden bereits Ziele definiert, wie wir unsere Rechte und Freiheiten künftig online ausüben wollen. Im Dezember soll der Gesetzentwurf der Kommission folgen. Zentral wird sein, endlich Transparenz über die Algorithmen herzustellen. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf zu sehen, nach welchen Kriterien Beiträge in ihrem Newsfeed oder in ihren Empfehlungen angezeigt werden.

Wir fordern Zugang zum Code und wollen in einem abgestuften Modell unterschiedliche Zugriffsrechte für Aufsichtsbehörden, Wissenschaft und Allgemeinheit ermöglichen. Damit wird klargestellt: Wir lassen uns von den großen Plattformen nicht mehr auf der Nase herumtanzen.

Auch die Teilhabe ist ein Gebot der Stunde. Weder Konzerne noch Regierungen verdienen uneingeschränktes Vertrauen. Wir brauchen eine dritte Instanz: die Beteiligung der Zivilgesellschaft, beispielsweise durch Social-Media-Räte aus Experten, Vertretern von betroffenen Gruppen und ausgelosten Bürgern. Sie sorgen für eine öffentliche Debatte der offengelegten Empfehlungsmechanismen, ringen um gesellschaftliche Kompromisse, machen Druck auf die Internetplattformen und formulieren Empfehlungen an die Politik.

Brauchen Qualitätsjournalismus mehr denn je

Das dritte Gebot heißt, Licht ins Dunkel der Trackingtechnologien in der Werbung zu bringen. Es sind die Erlöse aus den Werbeeinnahmen, die Google, Facebook und Co. zu unendlich reichen und mächtigen Akteuren machen. Die Wirksamkeit ihrer Werbung aber geht auf die ungeheuren Datenmengen zurück, anhand derer wiederum über Micro-Targeting Desinformation, Hass oder Wahlempfehlungen gezielt an dafür empfängliche Personengruppen ausgespielt werden können – bis diese Beiträge eine unaufhaltbare Eigendynamik im Netz und analog entwickeln.

Gleichzeitig gerät die Presse in eine Zwangslage, ihre Einnahmen brechen weg, und sie muss Erlöse in einem intransparenten Dschungel nicht nur mit Google, sondern auch mit Hunderten von Unternehmen teilen, die Nutzerdaten von ihren Webseiten absaugen. Dabei brauchen wir den Qualitätsjournalismus in diesen Zeiten mehr denn je, er ist fester Bestandteil unserer Demokratie.

Entscheidend für den Erfolg wird sein, dass wir eine schlagkräftige europäische Aufsichtsstruktur schaffen und die Durchsetzung der Regeln sicherstellen. Nationale Behörden wären nicht wirkmächtig genug in der Konfrontation mit den Interessen der internationalen Plattformen.

In Kombination mit einem neuen Wettbewerbsrecht könnte der Digital Services Act zu einem großen Wurf werden, der das demokratische Potenzial des Internets als Ort pluralistischer Debatten und Teilhabe in den Mittelpunkt stellt.

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