Das Territorium der Ukraine muss wiederhergestellt werden. Der Westen sollte Kiew dafür möglichst schnell das nötige militärische Material liefern, argumentiert Klaus Wittmann.
Der Autor
Klaus Wittmann ist Brigadegeneral a.D. und lehrt Zeitgeschichte an der Universität Potsdam.
Bild: dpa/Getty Images
Nun jährt sich der Beginn einer Aggression, deren Kommen viele nicht sehen wollten, obwohl Russland seit 2014 Krieg gegen die Ukraine führt. Dessen Charakter wird verkannt, wenn der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich darüber lamentiert, „was Menschen sich gegenseitig antun“. Gegenseitig? Russische Soldaten würden nicht getötet, hielten sie sich nicht auf, wo sie nichts zu suchen haben.
Dies ist nicht das Kräftemessen zweier „Kriegsgegner“, sondern die russische Unterwerfungsoffensive gegen ein freies Nachbarland – verbrecherisch sowohl nach Absicht und Ziel (ius ad bellum) als auch nach den kriegsvölkerrechtswidrigen Methoden (ius in bello).
Putins revisionistische, imperialistische, kolonialistische Ziele werden überwölbt durch eine willkürliche Geschichtsdeutung, welche der Ukraine das Recht auf staatliche Existenz abspricht.
Die russischen Ziele werden verharmlost, wenn man bar jeder Empathie feststellt, ohne Gebietsabtretungen werde es für die Ukraine nicht abgehen. „Abzutretende Gebiete“ sind Regionen und Orte mit Millionen von Ukrainern, denen unter russischer Herrschaft das widerfahren wird, was in besetzten Gebieten schon offenbar wurde.
Dazu gehören Mord, Vergewaltigung, Folter, Verschwindenlassen von Kommunalpolitikern, Plünderungen, systematischer Abtransport von Kulturgut, Zerstörung von Wohnhäusern, Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern und Kirchen, Verminung von Ortschaften und Feldern – und die Verschleppung nach Russland von Millionen Ukrainern, darunter Zehntausender Kinder zur Adoption durch Russen.
Dass Putin nach einem Sieg oder Diktatfrieden bei der Ukraine nicht haltmachen würde, zeigen nicht zuletzt seine Briefe vom Dezember 2021 an Nato und US-Administration. Er will die Entwicklung seit 1991 umkehren und implizit die Breschnew-Doktrin beschränkter Souveränität von Satellitenstaaten wiederaufleben lassen.
Strategisch hat Russland längst verloren, kann aber noch viel Tod und Zerstörung über die Ukraine bringen.
Elementar betrifft Europa und die Welt die massive Verletzung der in der Schlussakte von Helsinki vereinbarten Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung: souveräne Gleichheit europäischer Staaten, friedliche Streitbeilegung, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit der Grenzen. Katastrophal, würde das Schule machen.
Doch hat sich der russische Diktator verkalkuliert: hinsichtlich des ukrainischen Widerstands, der westlichen Unterstützung, der Einigkeit von EU und Nato, der Sanktionen – und ganz dramatisch hinsichtlich der Fähigkeit seiner eigenen Streitkräfte. Strategisch hat Russland längst verloren, kann aber noch viel Tod und Zerstörung über die Ukraine bringen.
Jedermann wünscht sich ein Kriegsende, aber: Wenn Russland das Kämpfen einstellt, ist der Krieg aus. Wenn die Ukraine es tut, existiert sie nicht mehr. Verhandlungen, nach denen vielstimmig gerufen wird, haben erst einen Sinn, wenn Putin seine dauernd bekräftigten Kriegsziele aufgibt: „Entukrainisierung, Entnazifizierung, Entmilitarisierung“. Das wird er erst tun, wenn er gezwungen wird einzusehen, dass sie unerreichbar sind.
Wenn Russland das Kämpfen einstellt, ist der Krieg aus. Wenn die Ukraine es tut, existiert sie nicht mehr.
Deshalb muss die Ukraine noch massiver zur Verteidigung und zur Befreiung, also Rückeroberung, geraubten Territoriums befähigt werden. Dazu braucht sie den Verbund von gepanzerten Gefechtsfahrzeugen, Artillerie (auch weitreichender Systeme gegen Nachschublinien und Kommandozentralen), Flugabwehr – und alles, auch Munition, schneller und in größerer Zahl, um sich gegen die russische Strategie „Masse statt Klasse“ zu behaupten. Die seit Langem bestehende Forderung nach einer Größenordnung von 300 Kampfpanzern und 500 Schützenpanzern ist realistisch.
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Die deutsche Entscheidung für die Bildung und Anführung einer „Panzer-Koalition“ (einschließlich der Herrichtung, Instandsetzung, Munitionsbeschaffung, Ausbildung) hätte vor einem halben Jahr getroffen werden sollen. Dabei hätte Bundeskanzler Olaf Scholz, der sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz rühmte, „Schnellschüsse“ vermieden zu haben, seine Maxime Vermeidung von Kriegseintritt und Alleingängen nicht aufgeben müssen.
So wäre früher deutlich geworden, dass einige Bündnispartner sich hinter der deutschen Zögerlichkeit versteckt haben, und Verteidigungsminister Boris Pistorius, der sich mit beachtlicher Energie bemüht, die verlorene Zeit aufzuholen, hätte weniger Schwierigkeiten.
Zwischen Vernichtungsabsicht und Überlebenswille ist kein „Kompromiss“ denkbar.
Wie es auf dem Kriegsschauplatz weitergeht, ist weitgehend eine Funktion westlicher Entschlossenheit, Nervenfestigkeit gegenüber Putins Drohungen – auch den nuklearen – und der Unterstützung mit Waffen, die vielfach spät kommt. Andernfalls hätte die Ukraine im Herbst das Momentum der Gegenangriffe um Charkiw und Cherson steigern können und müsste weniger Gefallene beklagen.
Fest steht: Zwischen Vernichtungsabsicht und Überlebenswille ist kein „Kompromiss“ denkbar. Kurzfristig muss die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine das Ziel sein, langfristig im euroatlantischen Raum ein völkerrechtskonformer und dauerhafter Friede, der die Ukraine einschließt.
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Klaus Wittmann ist Brigadegeneral a.D. und lehrt Zeitgeschichte an der Universität Potsdam.
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