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21.01.2021

11:36

Gastkommentar – „Global Challenges“

Die EU muss jetzt mutig und klug investieren

Bei der Entwicklung grüner und digitaler Schlüsseltechnologien darf die EU keine Zeit mehr verlieren. Sie muss massive Investitionen beschließen, fordert Werner Hoyer.

Werner Hoyer ist Präsident der Europäischen Investitionsbank in Luxemburg. dpa

Der Autor

Werner Hoyer ist Präsident der Europäischen Investitionsbank in Luxemburg.

Die Corona-Pandemie fühlt sich für viele wie ein Entschleunigungsprogramm an. Wir hetzen nicht mehr atemlos um die Welt, mal auf Dienstreise, mal auf Kurzurlaub, sondern arbeiten am Küchentisch und verzichten abends notgedrungen auf Theater- oder Restaurantbesuche.

Doch die gefühlte Entschleunigung ist ein Trugbild. Während wir uns nur noch wenig bewegen, verändert die Welt sich immer schneller: Zu Beginn der Pandemie gab es den schnellsten Aktienmarktabsturz aller Zeiten – und wenig später die rasanteste Erholung.

Das Covid-Vakzin des deutschen Start-ups Biontech ist der am schnellsten entwickelte Impfstoff aller Zeiten. Nationale und europäische Konjunkturpakete in Billionenhöhe wurden in atemberaubend kurzer Zeit beschlossen und umgesetzt.

Jeden Tag ist zu beobachten, dass der globale Wettlauf um technologische Vorherrschaft und damit auch wirtschaftliche und politische Macht zunimmt. Ist die Europäische Union für dieses Rennen gerüstet?

Leider nicht. Statt aufs Tempo zu drücken, orientiert die EU sich an Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Beispiel Künstliche Intelligenz (KI): Wir sind zwar in der Grundlagenforschung weltweit führend, die USA und China aber investieren viel stärker in Forschung und Entwicklung.

EU steht vor größter Herausforderung

Das setzt sich in der Kommerzialisierung fort: Von 2011 bis 2018 kamen zwei Drittel der Private-Equity-Investitionen in KI-Unternehmen aus den USA und ein Fünftel aus China – Europa kam mal wieder schlecht aus den Startblöcken. Dabei zeigte doch schon die erste Digitalisierungswelle, dass derjenige gewinnt, der zuerst neue Schlüsseltechnologien zur Marktreife bringt.

Die Erfolgsgeschichten von Digitalkonzernen wie Facebook, Alphabet, Apple und Amazon beweisen: The winner takes it all. Die Gemeinschaft der 27 EU-Staaten steht deshalb vor einer geradezu schicksalhaften Herausforderung: Wir müssen die größte und schnellste wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation unserer Geschichte in Gang setzen. Nur dann können wir unsere Rolle als globaler politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Akteur stärken.

Neben der Digitalisierung wird vor allem der Klimawandel das 21. Jahrhundert bestimmen. Dem aktuellen Weltkatastrophenbericht des Roten Kreuzes zufolge hat die Erderhitzung weltweit bereits 400.000 Menschenleben gekostet.

Zahlreiche der verheerendsten Naturkatastrophen der vergangenen Jahre sind auf den menschengemachten Klimawandel zurückzuführen – und es bleibt nicht mehr viel Zeit gegenzusteuern. Schon deshalb müssen die EU-Länder ihre Führungsrolle in grünen Technologien ausbauen und ihre Technologien und Geschäftsmodelle weltweit zur Entfaltung bringen.

Denn 90 Prozent der globalen Kohlendioxidemissionen entstehen außerhalb der EU. Wir müssen Klima-, Digitalisierungs- und Entwicklungspolitik als die drei Grundpfeiler unseres zukünftigen Wohlstands sehen.

Global Challenges – Idee und regelmäßige Autoren

Global Challenges – die Idee

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben.

Prof. Dr. Ann-Christin Achleitner

Co-Direktorin des Center for Entrepreneurial and Financial Studies (CEFS) an der TU-München und zudem Mitglied in zwei Konzern-Aufsichtsräten

Sigmar Gabriel

Ehemaliger Außen-, Wirtschafts- und Umweltminister und Vorsitzender der Atlantik-Brücke e.V.

Prof. Dr. Veronika Grimm

Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftstheorie, an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Sachverständigenrats

Werner Hoyer

Werner Hoyer ist Präsident der Europäischen Investitionsbank in Luxemburg.

Günther Oettinger

Ehemaliger Ministerpräsident von Baden-Württemberg und ehemaliger EU-Kommissar für Haushalt, Digitale Gesellschaft, Wirtschaft, Energie; Präsident von United Europe e.V.

Prof. Jörg Rocholl, PhD

Präsident der internationalen Wirtschaftshochschule ESMT Berlin und stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen

Prof. Dr. Bert Rürup

Ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenrates und Chefökonom des Handelsblatts in Düsseldorf

Prof. Dr. Renate Schubert

Hochschullehrerin für Nationalökonomie an der ETH Zürich und am Singapore ETH-Centre

Jürgen Trittin

Der Grünen-Politiker ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags und ehemaliger Bundesumweltminister.

Redaktion

Dr. Michael Brackmann, Bonn

Klimaschutz und Wohlstand schließen sich im Übrigen keineswegs aus: Seit 1990 hat die Europäische Union ihre Wirtschaftsleistung um 60 Prozent gesteigert – und gleichzeitig ihre Netto-Treibhausgas-Emissionen um ein Viertel gesenkt. Im Zuge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation sollten uns die europäischen Erfolge bei der Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen zuversichtlich stimmen.

Um diese Herausforderung anzugehen, braucht es Kreativität, Mut und Risikobereitschaft, vor allem aber massive Investitionen, und zwar so schnell wie möglich. Die Pandemie scheint uns hier aber einen Strich durch die Rechnung zu machen.

Denn die jüngste Umfrage der Europäischen Investitionsbank (EIB) unter fast 13.000 Unternehmen in der EU zeigt: Noch immer wendet mehr als jedes dritte Unternehmen (37 Prozent) überhaupt keine digitale Technologie an. In den USA trifft das nur auf 26 Prozent der Unternehmen zu. Dieses ernüchternde Ergebnis wird kaum gemildert durch die Tatsache, dass jedes zweite Unternehmen langfristig mehr in digitale Technologien investieren will.

Denn ein weiteres negatives Ergebnis kommt hinzu: Fast die Hälfte der befragten Unternehmen in der EU erwägt, ihre Investitionen kurzfristig zu verringern. Viele Firmen, insbesondere kleinere, sind finanziell schlicht nicht in der Lage, sich den rasant ändernden Rahmenbedingungen anzupassen.

Es droht also ein Paradoxon: Die Unternehmen halten sich aus Unsicherheit über die Folgen der Pandemie mit Investitionen zurück, die sie als überlebenswichtig erkannt haben. Doch dieses Paradoxon lässt sich auflösen. Schließlich haben die Mitgliedstaaten und die EU starke Institutionen, die schon bisher die schlimmsten Folgen der Pandemie für unsere Wirtschaft abfedern konnten.

Förder- und Entwicklungsbanken nehmen wichtige Rolle ein

Nun müssen dieselben Institutionen in die Zukunft investieren und Wachstum in jenen Bereichen schaffen, die uns wettbewerbsfähiger und krisensicherer machen: grüne und digitale Technologien. Europas Förder- und Entwicklungsbanken spielen dabei eine zentrale Rolle.

In Zeiten der Not können sie antizyklisch eingreifen und die Wirtschaft stabilisieren. So hat zum Beispiel die KfW Bankengruppe wesentlichen Anteil am Einsatz der deutschen „Konjunkturbazooka“, die EIB hat den milliardenschweren Europäischen Garantiefonds aufgesetzt.

Gerade wegen ihrer Fähigkeit, private Investitionen zu mobilisieren, sind die Förder- und Entwicklungsbanken wichtige Akteure bei der Entwicklung grüner und digitaler Schlüsseltechnologien. Und da gibt es erheblichen Nachholbedarf.

Der fängt bei der unzureichenden Ausstattung mit Glasfasernetzen und der viel zu geringen Kapazität von Rechenzentren in der EU an und setzt sich mit der im Vergleich zu den USA unterentwickelten Digitalisierung gerade mittelständischer Unternehmen fort. In der EIB-Umfrage klagen immerhin 16 Prozent der Unternehmen, die fehlende Infrastruktur behindere ihre Digitalisierungsanstrengungen.

In den USA liegt der Wert bei lediglich fünf Prozent. Derzeit holt die Europäische Union nicht etwa auf, sondern fällt weiter zurück. Deshalb drängt die Zeit: Seit der ersten industriellen Revolution gründen Europas Einfluss und wirtschaftlicher Erfolg wesentlich auf der Führungsrolle bei der Entwicklung neuer Technologien.

Wenn wir jetzt mutig und klug investieren, den digitalen Binnenmarkt weiterentwickeln und Europas grüne und digitale Transformation vorantreiben, können wir auch in Zukunft im Wettbewerb mit den USA und China mithalten. Schnelles Handeln ist jetzt das Gebot der Stunde. Angelehnt an den früheren Bundespräsidenten Roman Herzog heißt es also: Ein Ruck muss durch die Europäische Union gehen!

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