Anders als seinerzeit die UdSSR drängt Wladimir Putin auf die Ausweitung seiner Einflusssphäre. Die Konsequenzen für den Westen analysiert Jürgen Trittin.
Der Autor
Jürgen Trittin ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Er war Vorsitzender der Partei und in der Regierung von Gerhard Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Bild: dpa, Montage
Russlands Angriff auf die Ukraine bedeutet einen Zeitenbruch. Wladimir Putins Aggression ist die Rückkehr des Eroberungskrieges nach Europa – 80 Jahre, nachdem Deutschland seine Nachbarn brutal überfallen hat.
Der Krieg des russischen Präsidenten überzieht ein Land mit Gewalt, das im Zweiten Weltkrieg acht Millionen Menschen opfern musste. Mit diesem Feldzug geht die Sowjetunion endgültig unter.
Leonid Breschnew hatte 1975 die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterzeichnet. Putin lässt diese Sicherheitsarchitektur nun mit Kampfstiefeln in den Dreck treten.
Zynisch setzt er sich über den in Helsinki vereinbarten Verzicht auf Anwendung oder Androhung von Gewalt hinweg und schließt nicht einmal aus, Atomwaffen einzusetzen. Putins nukleare Drohung richtete sich gegen die Nato – und gegen jene Ukraine, die 1994 im Vertrauen auf die Garantiemächte Großbritannien, USA und Russland auf die bei ihr stationierten sowjetischen Atomwaffen verzichtet hat.
Für Putin ist selbst der nukleare Erstschlag gegen ein atomwaffenfreies Land kein Tabu. Seit der Kubakrise 1962 war die Schwelle zu einer atomaren Auseinandersetzung nicht mehr so niedrig wie heute.
Inzwischen wissen wir: Mit Putins Russland die Entspannungspolitik der 1970er-Jahre fortschreiben zu wollen war ebenso unklug wie die Strategie der Neokonservativen, auf die Rückkehr des Kalten Kriegs hinzuwirken. Entspannungsromantik und Kalte-Kriegs-Nostalgie beruhten bei aller Gegensätzlichkeit auf dem gleichen Grundirrtum: Russland sei wie die Sowjetunion.
Das aber ist falsch. Denn Putins Russland ist, anders als die Sowjetunion es war, nicht am Erhalt des Status quo interessiert.
Den Status quo mit einer Politik des „Wandels durch Handel“ friedlich zu ändern führte 1990 zum Zusammenbruch des Ostblocks. Am Ende gab die ökonomische Soft Power des demokratischen Kapitalismus den Ausschlag, nicht die Zahl der Panzer und Sprengköpfe. Panzer hatte die Sowjetunion schon damals mehr als die Nato.
Putins Herrschaft ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund des Scheiterns der UdSSR. Seine Politik zielt ab auf Revision. Kalter Krieg war und ist für Putin Vorspiel zum heißen Krieg – so wie er „eingefrorene“ Konflikte etwa in Georgien nach Gutdünken anheizt oder abkühlt.
Es rächt sich nun, dass die USA und Europa meinten, mehr materieller Wohlstand würde automatisch zu Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte führen. Lange prägte dieser Ansatz die Russlandpolitik von Kanzler Gerhard Schröder und seiner Nachfolgerin Angela Merkel. Sichtbarster Ausdruck war die enge Energiekooperation.
Übersehen wurde dabei, dass Putin alles andere als ein „lupenreiner Demokrat“ ist. Schon 1999 inszenierte er nach Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in Moskau den Ausnahmezustand.
Er ließ Truppen in Tschetschenien einmarschieren und dessen Hauptstadt Grosny in Schutt und Asche legen. Putins Metier war schon immer der von ihm inszenierte Ausnahmezustand. Und der verlangt nach Eskalation.
Das gilt umso mehr, als Putin, anders als Chinas Führung, gar nicht daran denkt, den Wohlstand der Bevölkerung dauerhaft zu erhöhen. Moskaus und Petersburgs unzufriedene Mittelklasse hatte deshalb 2012 gegen seine dritte Präsidentschaft demonstriert. 2014 versetzte Putin Russland dann mit der Krimannexion in einen nationalistischen Taumel.
Es war nicht die Osterweiterung der Nato – auf Basis der Nato-Russland-Grundakte –, die ihn 2014 die Ukraine angreifen ließ. Es war die Absage der Ukrainer an die Eurasische Wirtschaftsunion und ihr Plädoyer für die Assoziierung mit der Europäischen Union. Russlands Soft Power hatte gegen die der EU verloren. Putin reagierte mit Hard Power.
Unterdessen verarmt(e) das russische Volk. Alles, was an Einnahmen aus dem Rohstoffhandel ins Land kam, floss ins Militär und in die Taschen der Oligarchen. Seit der Krimannexion ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf unter 10.000 Dollar gesunken – es ist damit niedriger als in China und dem ärmsten EU-Land Rumänien.
Inzwischen ist klar: Putins Blitzkriegskonzept funktioniert in der Ukraine nicht. Er mag zwar die Schlacht um Kiew gewinnen, auch wenn das alles andere als gewiss ist. Den Krieg gegen den Rest der Welt aber hat er bereits verloren.
Für eine dauerhafte Besetzung der Ukraine dürften schon seine ökonomischen und finanziellen Ressourcen nicht reichen – erst recht nicht angesichts der vernichtenden Wirkung westlicher Sanktionen. Sie schicken Russland ökonomisch zurück in die 1960er-Jahre der Sowjetunion.
Eine frohe Botschaft ist das freilich nicht. Ein Herrschaftssystem, das als Ausweg aus Krisen nur die Eskalation durch Hard Power kennt, wird umso gefährlicher, je auswegloser seine Lage scheint. Deshalb ist die Nato gut beraten, bei aller Unterstützung der Ukraine keine Kriegspartei zu werden. Nicht weil das Schicksal der Ukraine uns egal sein könnte, sondern weil der Kriegseintritt die Zahl der Opfer explodieren ließe.
Notwendig ist es jetzt, die Ausrüstungsmängel der Bundeswehr zu beheben und sie zu modernisieren. In Merkels 16-jähriger Kanzlerschaft stieg der deutsche Rüstungsetat zwar fast auf die Höhe des russischen – doch das reicht nicht aus, um mit dem Geld die in Litauen stationierten Bundeswehrsoldaten mit warmer Unterwäsche zu versorgen. Es braucht beides: eine bessere finanzielle Ausstattung und ein Ende des Geldverbrennens bei der Beschaffung.
Aber Sicherheit für Europa erschöpft sich nicht im Militärischen. Europa muss resilienter werden.
Vor allem Deutschland muss möglichst schnell seine Abhängigkeit von fossilen Energieimporten verringern. Es ist möglich, das Verhältnis von Einfuhr und heimischer Energie umzukehren, sodass wir nur noch ein Viertel unserer Primärenergie importieren müssen. Der Schlüssel dafür bietet eine beschleunigte Dekarbonisierung – und die schnelle Beendigung der Importe aus Russland.
Manche haben Angst vor einem im Wortsinn kalten Entzug. Aus Angst vor dem Kater einfach weiterzuzechen war aber schon immer ein schlechter Rat.
Wir können bis zum Jahresende den Bezug von Öl und Kohle aus Russland beenden. Zusätzlich ist für volle Gasspeicher zu sorgen, sind frei werdende Flüssiggasverträge auf dem Weltmarkt zu sichern. Man sollte den Einbau von Wärmepumpen statt Gasheizungen vorschreiben, erneuerbare Energien ausbauen und die Wasserstoffproduktion hochfahren.
Angesichts der von Putin abgesenkten Nuklearschwelle und der prekären Situation in ukrainischen Atomkraftwerken sollten wir froh über jedes abgeschaltete AKW in Europa sein – statt über Laufzeitverlängerungen zu schwadronieren.
Russland ist nicht die Sowjetunion. In der Uno-Vollversammlung haben 141 Länder Putin unlängst aufgefordert, den Krieg sofort zu beenden. Nur fünf Staaten stellten sich hinter ihn. Dermaßen isoliert war die UdSSR nie.
Der Krieg in der Ukraine entspricht auch nicht den wirtschaftlichen Interessen von Putins Partner China. Für Europa kommt es nun darauf an, das Verhältnis von Hard Power und Soft Power neu auszutarieren. Strategisch wird die Soft Power gewinnen.
Der Autor: Jürgen Trittin ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Er war Vorsitzender der Partei und in der Regierung von Gerhard Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
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