PremiumMenschheitsherausforderungen wie die Klimakrise, Krieg und Corona kann nicht allein der Markt bewältigen, analysiert Jürgen Trittin.
Jürgen Trittin
Der Autor ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen. Er war Vorsitzender der Partei und in der Regierung von Gerhard Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Bild: dpa, Montage
Jüngst ging das Davoser Weltwirtschaftsforum zu Ende. Es war das erste seit zweieinhalb Jahren – und das erste, das vor grüner Kulisse statt weißer Pracht stattfand. So wie die Maisonne den Schnee dahinschmelzen ließ, so haben Klimakrise, Corona und Krieg die zentralen Glaubenssätze von drei Jahrzehnten marktgetriebener Globalisierung hinweggefegt. Allen voran das Mantra: Der Markt regelt das schon.
Das Satellitenbild der vor Schanghai auf Reede liegenden Containerschiffe wurde zum Symbol für global gestörte Lieferketten. Verzögerungen und Materialmangel, von Chips über Kabelbäume bis zum Bauholz, treiben heute die Inflation in Europa wie in den USA. Die Coronakrise zeigt, wie wenig resilient eine Weltwirtschaft ist, die aus Kostengründen die Produktion von Pharmazeutika und Medizinprodukten auf wenige Standorte konzentriert hat.
Und wie wenig ein ungeregelter Markt in der Lage ist, essenzielle Güter wie Impfstoffe pandemiegerecht zu verteilen. Während im reichen Norden Impfstoffe jenseits des Verfallsdatums ungenutzt vernichtet werden, fehlen sie im globalen Süden. Dort drohen neue Mutationen, mit denen die Impfstoffe auch im Norden ihre Wirksamkeit einbüßen könnten. Das größte Marktversagen aber, die Klimakrise, erfasst immer mehr Länder.
In Indien stiegen schon im Mai die Temperaturen auf bis zu 50 Grad. In Sri Lanka führten Hitzewellen und steigende Energiepreise zu Aufständen und dem Sturz der Regierung. In Nahost droht wegen Dürre und fehlender Weizenlieferungen eine ähnliche Entwicklung. Die Weizenkrise ist auf ausfallende Transporte aus der Ukraine und Russland zurückzuführen – eine Folge von Wladimir Putins Angriffskrieg. Aber die für viele Gesellschaften verheerende Wirkung des Weizenpreises hat auch spekulative Ursachen: An den Börsen wird weltweit das Vielfache des global vorhandenen Weizens gehandelt. So werden die Nachfrage und damit der Preis hoch gehalten.
Offensichtlich regelt der Markt nicht alles. Die Welt steht vor einer neuen Hungerkatastrophe. Die von Putin ausgelöste Weizenkrise erhöht die Spannungen zwischen dem globalen Norden und dem Süden. Dass nun das reiche Europa, beim Versuch sich von Russland zu emanzipieren, als massiver Nachfrager fossiler Energien auf den Weltmarkt tritt, hält den Ölpreis hoch und treibt Kohle- wie Gaspreise. So wachsen die Spannungen mit dem globalen Süden weiter.
Der großkoalitionäre Glaube war naiv, eine auf Revision der europäischen Ordnung zielende Macht wie Russland durch Handel wandeln zu können. Mindestens ebenso naiv ist die Vorstellung, die derzeitige Allianz aus 141 Staaten der Uno-Generalversammlung gegen Russlands Aggression werde dauerhaft stabil bleiben. Klimakrise, Corona und Krieg drohen die Allianz zu erodieren. Europa muss lernen: Die Welt steht vor einer Neuaufteilung von Macht und Einflusssphären.
Global zählen multilaterale Regeln immer weniger. Stattdessen steht Europa vor der Frage, ob es in einer multipolaren Welt ein eigenständiger Pol sein will oder sich einem anderen Pol unterordnen muss. Europas Antworten auf die Herausforderungen Klimakrise, Corona und Krieg werden diese Frage entscheiden. Es ist moralisch geboten und in unserem Interesse, schnell zu einer Beendigung des Ukrainekrieges zu kommen.
Dauerhaft wird ein solches Ende nur sein, wenn es sich nicht um einen von Moskau diktierten Waffenstillstand handelt. Dafür liefert Europa Kiew Waffen und schwächt Russland durch ökonomische Zwangsmaßnahmen. Eine schnelle Beendigung des Krieges ist auch das Ziel von US-Außenminister Antony Blinken. Dieses Ziel aber ist unvereinbar damit, den Kreml – wie von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin gefordert – in einen langen Abnutzungskrieg zu verwickeln, der Russland so schwächen soll, dass sich eine Aggression wie in der Ukraine andernorts nicht wiederholt.
Eine solche Strategie ließe die Ukrainer für einen geopolitischen Stellvertreterkrieg bluten. Gewinner wären weder Europa, noch die USA, sondern China. Dabei gerät China gerade mit seiner Politik des harten Lockdowns in Wirtschaftsmetropolen wie Shenzen und Schanghai in die Defensive. Pekings katastrophale Omikron-Governance, die Unfähigkeit, die eingesperrte Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen, hat das Ansehen der Kommunistischen Partei im Innern beschädigt. Die gestörten Lieferketten und der globale Nachfrageeinbruch gefährden Chinas ohnehin schon niedrige Wachstumsziele.
Politisch ist Chinas Führung zur Vorsicht gezwungen. Entgegen ihrer Erwartung hat der „dekadente“ Westen geschlossen und entschlossen begonnen, Russland von seinen Märkten abzukoppeln. Das zwingt Peking, die „grenzenlose Freundschaft“ mit Moskau neu zu kalibrieren. China mäandert zwischen verbaler Unterstützung für Putins „Militäroperation“ und vorauseilendem Gehorsam, um nicht in Verdacht zu geraten, Sanktionen aus den USA oder Europa zu unterlaufen.
In dieser Situation muss die Europäische Union jetzt einen ernsthaften Anlauf starten, Krieg, Corona und Klimakrise zu überwinden. Das geht nur durch eine politische Gestaltung der Globalisierung – eine Globalisierung 2.0. Die ist keine Absage an den Markt, aber an dessen absoluten Vorrang vor Regulierungen. Handel und Investitionen müssen frei sein, aber nur innerhalb der Vorgaben eines an Klimaschutz und Menschenrechten orientierten Regelwerks.
Globalisierung 2.0 heißt, der Verantwortung des globalen Nordens gerecht zu werden. Deshalb muss parallel zur Abkoppelung von den fossilen Quellen Russlands der Nachfragedruck auf die Energiemärkte gemindert werden. Vor allem aber: Wenn die drohende Hungerkrise abgewendet werden soll, brauchen wir neben Milliardenbeträgen an humanitärer Hilfe auch Klarheit über die Kriegsziele in der Ukraine. An der Beendigung des Krieges durch einen für die Ukraine akzeptablen Waffensillstand sollten sich militärische Hilfen sowie die ökonomischen Zwangsmaßnahmen der EU, der USA, der G7 orientieren.
Das Ende der Naivität nach der „Zeitenwende“ des 24. Februar verlangt auch eine realistische Sicht auf die innenpolitische Situation in den USA. Es ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass dort 2024 der Trumpismus zurückkehrt. Heute sind die USA unsere Partner und Wettbewerber. Es könnte aber sein, dass Washington Europa dann wieder als „worse than China“ behandelt.
Um dem zu begegnen, muss Europa resilienter werden – durch politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Wiederansiedlung strategischer Industrien von Halbleitern über Pharma bis zur Photovoltaik. Zur Finanzierung werden europäische Anleihen die Regel und nicht länger die Ausnahme sein müssen.
Wird in einer Neuauflage des Trumpismus die atomare Garantie für Europa gegenüber aggressiven Mächten brüchig , ist der derzeit nur von der Türkei gestörte Honeymoon unter den 30 Nato-Mitgliedern Vergangenheit. Europa wird sich dann der Frage stellen müssen, ob die notwendige nukleare Abschreckung dann durch eine europäische Säule in der Nato oder gleich unter dem Dach der Europäischen Union organisiert wird.
Der Autor: Jürgen Trittin ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen. Er war Vorsitzender der Partei und in der Regierung von Gerhard Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
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