20.01.2022
18:43
Heute dominiert operatives Krisenmanagement viele Entscheidungen. Doch unsere Institutionen und ihre Führung sind nicht mehr zweckmäßig. Wir brauchen neue Wegbereiter, meint Klaus Schwab.
Der Autor
Klaus Schwab ist Gründer und geschäftsführender Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums.
Bild: dpa
In diesem Jahr könnten die Covid-19-Pandemie und die unzähligen Krisen, die sie hervorgebracht hat, endlich abklingen. Doch selbst dann sind große Herausforderungen in Sichtweite – vom Scheitern der Klimaschutzmaßnahmen bis zur Erosion des sozialen Zusammenhalts. Um die Risiken zu entschärfen, müssen die Staats- und Regierungschefs sich für ein anderes Governance-Modell entscheiden.
Wenn unsere Institutionen gut regiert werden, schenken wir ihnen wenig Aufmerksamkeit. Sie sind eine kaum sichtbare Infrastruktur, die die Wirtschaft und praktisch alle Aspekte der sozialen Ordnung unterstützt. Eine „gute“ Regierungsführung hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Einkommenszuwachs und sozialen Frieden ermöglicht.
Heute aber haben viele Menschen das Vertrauen in Institutionen und deren Führungskräfte verloren. Angesichts der zunehmenden Risiken und unseres kollektiven Versagens, sie zu bewältigen, suchen wir stattdessen nach Schuldigen.
Einige zeigen mit dem Finger auf unfähige politische Führer, andere beschuldigen Vorstandsvorsitzende – und eine wachsende Minderheit führt alles Unheil auf eine „Verschwörung der Eliten“ zurück.
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Die Wahrheit ist jedoch viel komplizierter. Der Grund für unser Versagen bei der Vorhersage und Bewältigung globaler Risiken – neben dem Klimawandel und der sich vertiefenden sozialen Spaltung gilt dies beispielsweise auch für Schuldenkrisen und unzureichende technologische Regulierung – liegt in einem ungelösten Problem der globalen Governance.
Unsere Institutionen und ihre Führung sind nicht mehr zweckmäßig. Wir neigen dazu, Geschichte als eine Reihe umwälzender, erdbebenartiger Ereignisse zu betrachten. Doch die Verschlechterung der globalen Governance ist ein Fall von allmählicher Erosion.
In der Zeit der Governance 1.0 unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren sowohl die öffentliche als auch die Unternehmensführung meist durch die Herrschaft „eines Mannes“ gekennzeichnet: des gewählten oder nicht gewählten „Chefs“. Diese Art der Führung funktionierte gut in einer Gesellschaft, in der die Informationskosten hoch waren, hierarchische Macht oft reibungslos funktionierte und der technologische und wirtschaftliche Fortschritt fast allen zugutekam.
Das Ende der 1960er-Jahre entstandene Modell der Governance 2.0 bekräftigte den Vorrang des materiellen Reichtums und fiel mit dem Aufstieg des von Ökonomen wie Milton Friedman gepredigten Shareholder-Kapitalismus und der fortschreitenden globalen Finanzialisierung zusammen.
Die neue Managerklasse, die nur den Aktionären gegenüber rechenschaftspflichtig war, herrschte uneingeschränkt und mit globaler Reichweite. Obwohl die Weltfinanzkrise 2008 die Governance 2.0 zu delegitimieren schien, setzte sich ihre Sichtweise dennoch bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie durch.
Der brutale soziale und wirtschaftliche Schock, den Corona verursachte, läutete die Governance 3.0 ein. Heute dominiert operatives Krisenmanagement die Entscheidungen, mögliche unbeabsichtigte Folgen sind eher bedeutungslos. Dieser kurzfristige, auf Versuch und Irrtum basierende Ansatz hat zu einem planlosen Umgang mit der Pandemie und ihren sozioökonomischen Folgen geführt.
Wenn die Pandemie vorbei ist, brauchen wir ein neues Modell. Governance 4.0 würde sich in mehreren grundlegenden Aspekten von ihren Vorgängern unterscheiden.
Die Welt hat sich verändert, deshalb muss sich auch die öffentliche und unternehmerische Führung verändern. Große strukturelle Veränderungen wie die vierte industrielle Revolution und der Klimawandel bringen heute alle Branchen und Machtzentren durcheinander. Technologien wie die Blockchain ersetzen zentralisierte und hierarchische Organisationen durch dezentralisierte, autonome Einheiten. Gleichzeitig nehmen die sozialen, wirtschaftlichen und digitalen Ungleichheiten zu.
Derzeit sind viele Führungskräfte noch in der Shareholder-Kapitalismus-Mentalität der Governance 2.0 verhaftet, einige Gesellschaften bevorzugen sogar nach wie vor die Struktur der Governance 1.0. Und solange Covid-19 eine Bedrohung bleibt, wird die Krisenmentalität der Governance 3.0 weiterhin die Diskussionen in den Vorstandsetagen und Kabinetten dominieren.
Doch viele Führungskräfte denken und handeln bereits wie Pioniere eines neuen Governance-Zeitalters. Dazu gehören Führungskräfte aus der Wirtschaft, die sich für Umwelt-, Sozial- und Governance-Kennzahlen einsetzen, und Politiker wie der französische Präsident Emmanuel Macron und der italienische Premierminister Mario Draghi, die Grenzen überwinden. Vor allem aber fordern junge Menschen eine bessere Zukunft.
Diejenigen, die sich noch an den Regierungshandbüchern früherer Epochen orientieren, kritisieren solche Führungspersönlichkeiten dafür, dass sie nicht in ihrem Fahrwasser bleiben. Wir sollten jedoch Führungspersönlichkeiten begrüßen, die sich auf weitgehend unerforschtem Terrain bewegen, als Wegbereiter agieren und sich für konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und sozialer Ungerechtigkeit einsetzen.
Der beste Indikator für eine verantwortungsvolle Unternehmensführung ist das Ausmaß, in dem Führungskräfte die Verantwortung der Stakeholder anerkennen. Die Messung der Stakeholder-Verantwortung steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber die Entwicklung einheitlicher Messgrößen wird uns in die Lage versetzen, zu beurteilen, ob die Führungskräfte ihre Rolle und Verantwortung auf breiterer Basis wahrnehmen.
Das 21. Jahrhundert wird viele noch nie da gewesene Herausforderungen mit sich bringen. Wenn wir wollen, dass unsere Kinder und Enkel mit der gleichen Genugtuung auf den Fortschritt zurückblicken, den wir am Ende des 20. Jahrhunderts erlebt haben, dann brauchen wie eine Governance 4.0.
Der Autor: Klaus Schwab ist Gründer und geschäftsführender Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums.
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