PremiumDie EU-Kommission stellt an diesem Mittwoch Abschreckungsmaßnahmen gegen unfaire Handelspraktiken vor. Was davon zu halten ist, analysiert Bernd Lange.
Gastkommentar
Bernd Lange (SPD) ist Vorsitzender des Handelsausschusses im Europäischen Parlament.
Bild: European Parliament 2019
Es steht außer Frage, dass eine regelbasierte und faire globale Handelsordnung im vitalen Interesse Europas ist. Diese Ordnung im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) auszubauen muss einer der Grundpfeiler europäischer Handelspolitik sein.
Das allein reicht aber nicht aus. Denn wir sehen uns zunehmend mit einer Situation konfrontiert, in der Staaten diese globale Ordnung nicht nur infrage stellen, sondern sie auch bewusst im eigenen Interesse unterwandern.
Handelspolitik wird immer häufiger als politische Waffe eingesetzt. Die geopolitischen Spannungen der jüngsten Zeit haben überdeutlich gemacht: Für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten wird es von überragender Bedeutung sein, die eigenen Handlungsspielräume und Interessen verteidigen zu können. Dazu gehört, sich entschlossen gegen äußeren Druck zur Wehr zu setzen.
Die Regierung von Donald Trump hat exemplarisch bewiesen, wie man ein fragiles globales System an den Rand des Zusammenbruchs bringen kann. Mit ihrer Blockade der Neubesetzung von Richtern der WTO-Berufungsinstanz haben die USA die Streitschlichtung der Organisation lahmgelegt und damit eine ihrer wichtigsten Funktionen ausgehebelt.
Danach ging die Trump-Administration dazu über, rücksichtslos Handelsverträge zu kündigen und sie unter Zwang neu zu verhandeln. Hinzu kamen illegale Zölle und andere Strafmaßnahmen. Dabei war Protektionismus durchaus nicht das wichtigste Ziel. Trump ging es vielmehr darum, seinen Willen durchzusetzen und anderen Staaten die Interessen der USA aufzuzwingen.
Eine solch rücksichtlose Politik ist mit dem Ende von Trumps Präsidentschaft leider nicht Vergangenheit geworden. Im Gegenteil: Ich beobachte zunehmend Maßnahmen, die zwar vorrangig wirtschaftlicher Natur sind, gleichzeitig aber darauf abzielen politische Entscheidungen zu beeinflussen. Einige Beispiele:
Die Drohung der USA, Strafzölle auf französische Produkte einzuführen, sollte Paris davon abhalten, eine Abgabe auf digitale Dienstleistungen zu erheben. Die fortwährenden Drohungen vor allem republikanischer US-Abgeordneter, Sanktionen gegen Deutschland oder sogar gegen einzelne Behörden oder Personen zu verhängen, zielen darauf ab, die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 zu verhindern – die USA wollen lieber ihr eigenes, teureres Gas nach Europa exportieren. In beiden Fällen versuchen die USA unübersehbar, Mitgliedstaaten der EU zu bestimmten Entscheidungen zu zwingen.
Auch Chinas Handelspolitik bedient sich Zwangsmaßnahmen – jüngst etwa die Blockade aller Importe aus Litauen, weil die „abtrünnige Provinz“ Taiwan dort eine eigene diplomatische Vertretung eröffnet hat. Oder der Handelskrieg mit Australien als Reaktion auf Canberras Forderung, die Ursprünge des Coronavirus von unabhängigen Wissenschaftlern untersuchen zu lassen.
Peking verschleiert mit Desinformationskampagnen die Unterdrückung der uigurischen Minderheit in der Provinz Xinjiang und bestraft Personen, die auf dortige Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Ein weiteres beliebtes Mittel: „Spontane“ Boykotts westlicher Marken, die Teil der Better-Cotton-Initiative zur nachhaltigen Produktion von Baumwolle sind.
Nicht zuletzt untersagt die Volksrepublik China-kritischen Europaabgeordneten die Einreise. Die Liste ließe sich fortsetzen, etwa mit dem russischen Importverbot landwirtschaftlicher Güter, vor allem aus Polen. Insbesondere Washingtons Drohung, mit aller Härte gegen die von Frankreich zunächst eingeführte, dann aber wieder ausgesetzte Digitalsteuer vorzugehen, hat in Brüssel eine Debatte über offensichtliche Lücken im Werkzeugkasten der EU geführt.
Wie kann man das von der Europäischen Kommission für die EU geprägte Leitbild der „offenen strategischen Autonomie“ verwirklichen, wenn man keine Mittel hat, souveräne Entscheidungen auch zu garantieren? Ein erster Baustein, diese Lücke zu schließen, wurde mit der Modernisierung der sogenannten Durchsetzungsverordnung gesetzt. Die EU kann nun zum Beispiel Gegenmaßnahmen ergreifen, wenn Drittstaaten eine Streitschlichtung vor der WTO blockieren. Die Verordnung ist ein erster, wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Auf Druck des Europäischen Parlaments haben sich die EU-Institutionen verpflichtet, ein weiteres, ergänzendes Instrument zu erarbeiten. Mit diesem soll sich die Union gegen Versuche von Drittstaaten, politische Entscheidungen zu erzwingen, künftig zur Wehr setzen. An diesem Mittwoch will die Europäische Kommission den Entwurf des „Anti Coercion Instrument“ vorstellen.
Eigentlich setzt die EU auf weltweite Kooperation, Partnerschaft und Kompromissfindung – und nicht auf ein handelspolitisches Waffenarsenal. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, ist das Anti Coercion Instrument so wichtig. Denn die Europäische Union muss die Realität einer zunehmend raueren geopolitischen Landschaft anerkennen.
Wer nicht in der Lage ist, sich entschlossen Drittstaaten entgegenzustellen, der wird sich von diesen politische Entscheidungen diktieren lassen. Wir müssen also ein Instrument, das vor allem der Abschreckung dient, erarbeiten. Als Berichterstatter des Europäischen Parlaments ist mir dabei wichtig, dass wir am Ende des Tages klare Regeln aufstellen.
Unverzichtbar ist in diesem Zusammenhang, umfassend zu definieren, was alles unter den Begriff „unlautere Zwangsmaßnahmen“ fallen kann. Außerdem sollte es ein klares, transparentes und schnelles Entscheidungsverfahren geben, wie welche Zwangsmaßnahmen einzustufen sind. Sinnvoll wäre es auch, bestimmte Automatismen einzuführen – schon um auszuschließen, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten auseinanderdividiert werden.
Natürlich brauchen wir darüber hinaus einen konkreten Katalog von möglichen Gegenmaßnahmen, die als Reaktion auf aggressives und konfrontatives Verhalten von Drittstaaten ergriffen werden können. Drittstaaten muss klar sein: Wer Zwang auf die EU ausübt, wird dafür die Kosten tragen. Republikaner im US-Kongress können dann zwar weiter Drohbriefe an deutsche Städte und Häfen schreiben. Sie sollten sich aber darüber im Klaren sein, dass ihre Forderungen unangenehme Konsequenzen für sie selbst haben.
Sollten mehrere Staaten von handelspolitischen Initiativen betroffen sein, die gegen sie als politische Waffe eingesetzt werden, wäre es sinnvoll, politische oder auch wirtschaftliche Gegenmaßnahmen zu koordinieren – und so ihre Wirksamkeit zu erhöhen. Das schließt ein abgestimmtes Vorgehen in multilateralen Institutionen ein.
Es ist kein Geheimnis, dass Deutschland im Brüsseler Ministerrat eine herausgehobene Stellung hat. Viele EU-Staaten werden deshalb die deutsche Reaktion auf das Anti Coercion Instrument genau beobachten. Es steht nicht weniger als die europäische Souveränität auf dem Spiel. Um sie zu sichern, ist das neue Anti Coercion Instrument von entscheidender Bedeutung. Es muss möglichst schnell zu einem praktischen Hebel europäischer Handelspolitik werden.
Der Autor: Bernd Lange (SPD) ist Vorsitzender des Handelsausschusses im Europäischen Parlament.
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