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24.05.2022

09:00

Gastkommentar

Industrielle Sanierung von Gebäuden ebnet den Weg aus Putins Gasfalle

PremiumDamit alle deutschen Immobilien bis zum Jahr 2045 klimaneutral werden, ist eine neue, standardisierte Sanierungsindustrie nötig, argumentieren Klaus Freiberg und Emanuel Heisenberg.

Emanuel Heisenberg (re.) ist Gründer und Geschäftsführer des Berliner Unternehmens ecoworks, das serielle, CO2-neutrale Sanierungsprojekte in Deutschland realisiert. Klaus Freiberg ist ehemaliger COO des Wohnungskonzerns Vonovia. Er ist Berater und Investor bei den Risikokapitalfonds Proptech 1 und Foundamental. Er ist an ecoworks beteiligt. Jens Gyarmaty/laif, imago/sepp spiegl

Die Autoren

Emanuel Heisenberg (re.) ist Gründer und Geschäftsführer des Berliner Unternehmens ecoworks, das serielle, CO2-neutrale Sanierungsprojekte in Deutschland realisiert. Klaus Freiberg ist ehemaliger COO des Wohnungskonzerns Vonovia. Er ist Berater und Investor bei den Risikokapitalfonds Proptech 1 und Foundamental. Er ist an ecoworks beteiligt.

Der russische Angriffskrieg tobt seit nunmehr drei Monaten in der Ukraine und nach wie vor fließen Milliarden Euro für Energieimporte nach Russland. In den ersten zwei Monaten seit Kriegsbeginn beliefen sich dabei allein die europäischen Importe auf circa 39 Milliarden Euro.

Es ist an der Zeit, dass auch die deutsche Immobilienwirtschaft ihren Teil dazu beiträgt, dass die Energiebedarfe der rund 21 Millionen Gebäude in Deutschland Putins Krieg nicht weiter mitfinanzieren.

Der EU-Abgeordnete Niels Fuglsang hat vorgerechnet, dass jedes zusätzliche Prozent an Energieeffizienz Gasimporte um 2,6 Prozent senkt. Das sind vielversprechende Aussichten, um die Abhängigkeit zu brechen, denn galoppierende Energiepreise sind keine gesunde wirtschaftliche Perspektive.

Zwischenzeitlich zogen die Preise für Gas um 590 Prozent und für Öl um 83 Prozent an. Kosten für Heizung und Warmwasser entwickeln sozialpolitische Sprengkraft, und allein der Importstopp für russisches Gas ist für Haushalte mit Mehrbelastungen zwischen 800 und 2500 Euro pro Jahr verbunden.

Die Energiekosten reichen gerade in unsanierten Gebäuden vielerorts an die Kaltmiete heran. Erschreckenderweise liegt die Sanierungsrate nur bei einem Prozent.

Damit würde es noch 100 Jahre dauern, um den Bestand an deutschen Wohnungen fit für die Klimaneutralität zu machen. Bis zum Stichjahr 2045 ist das jedenfalls nicht zu schaffen.

Fördergelder für die Sanierung sollten sich auf neue Technologien konzentrieren

Die Produktivität der Bauindustrie ist lange rückläufig, während die Preise im Hochbau allein 2021 um 14,4 Prozent explodierten. Einer aktuellen Studie zufolge entspricht eine Verdopplung der Sanierungsquote einer Verdopplung um 350.000 Handwerker. Zusätzliches Personal ist jedoch nicht vorhanden.

Es geht aber nicht nur um Fachkräfte, sondern auch darum, wer die größte Bautätigkeit seit dem Wiederaufbau finanziert. Über 30 Millionen Wohnungen müssen hierzulande auf dem Weg zur Klimaneutralität saniert werden.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie und die Berater von Boston Consulting gehen bis zum Jahr 2030 von 175 Milliarden Euro Mehrkosten im Gebäudesektor aus, wovon mindestens 80 Milliarden für die Sanierung anfallen.

Dementsprechend hat Wirtschaftsminister Robert Habeck mit dem vorläufigen KfW-Förderstopp für energiesparendes Bauen und Sanieren am 24. Januar eine klare Tendenz aufgezeigt: Die staatlichen Milliarden sollen nicht mehr in unambitionierte Sanierungsprojekte fließen.

Da 80 Prozent der deutschen Eigenheime und 65 Prozent der Mehrfamilienhäuser als ineffizient gelten, wäre jeder falsch investierte Euro fatal: Das Fördergeld darf sich nicht weiterhin Wege in kaum oder nicht wirksame Maßnahmen bahnen.

Letztlich sind neue Fördermilliarden vor allem auf Technologien zu konzentrieren, die Gebäude schlagartig klimaneutral machen und von fossiler Versorgung abtrennen. Die heutigen Gebäudehüllen sind 30 bis 50 Jahre in Betrieb, die Anlagentechnik 15 bis 20 Jahre.

Um diese Gebäude bis zum Jahr 2045 klimaneutral zu machen, ist eine neue Sanierungsindustrie nötig.

Deutsche und japanische Maschinenbauer – allen voran die Automobilhersteller – halten die Erfolgsstrategie für die Sanierungsindustrie „made in Germany“ bereit: die Lieferpyramide. Dabei stehen an der Spitze Lösungsanbieter –Systemintegratoren – für Sanierungen, die von Modulherstellern von Fassaden- und Dachsystemen oder integrierter Versorgungs- und Energietechnik beliefert werden.

Diese benötigen ihrerseits hochwertige und günstige Komponenten wie Fenster, Rollos oder Lüftungen. Sobald ausreichend Systeme nachgefragt werden, steigt die Anzahl an Modulherstellern, die wiederum die Komponentennachfrage ankurbeln. Die Folge sind Skaleneffekte und Qualitätssteigerungen.

Weltweit wird noch saniert wie im Handwerk vor 100 Jahren

Innovationen, Arbeitsteilung und eine Lieferpyramide mit starken Anbietern an der Spitze würden endlich die Bauindustrie und die gängige Sanierungspraxis verändern. Im Wesentlichen wird weltweit noch saniert wie im Handwerk vor 100 Jahren: 95 Prozent der Fertigung findet in chaotischen, handwerklich geprägten Abläufen auf der Baustelle statt.

Komponenten werden auf die Baustelle geliefert, dort gelagert und dann montiert, wenn die Handwerker verfügbar sind. Der Digitalisierungsgrad ist marginal, und wegen mangelnder Koordination und Qualität muss ständig rückgebaut werden.

Gleichzeitig werden Zeit- und Kostenpläne meist überschritten, es entsteht unnötiger Abfall, die Entsorgung ist aufwendig, und nur ein Prozent der Materialien wird wiederverwertet.

Zur Standardisierung und Modularisierung benötigt es Daten – flächendeckend und anonymisiert. Ein hochwertiger Datenbestand ist in anderen europäischen Ländern längst staatlich bereitgestellt.

Nur auf dieser Grundlage lässt sich die kommende Sanierungsnachfrage bündeln, während Planung und Projektmanagement automatisiert werden. Diese paneuropäische Renovation-Wave umfasst ein geschätztes Volumen von acht bis zehn Billionen Euro an Sanierungsmaßnahmen binnen weniger Jahrzehnte.

Damit Standardteile günstig erzeugt und verbaut werden können, müssen Gebäude gescannt und Standards für neuartige Gebäudehüllen geschaffen werden, die wie eine zweite Haut um die alten Gebäude gelegt werden.

Ganz ohne Handwerk, sondern durch Automatisierung und Robotik entstehen millimetergenau vorgefertigte Fassaden- und Dachelemente, die lediglich an den bestehenden Gebäuden befestigt werden müssen. In ihnen sind bereits Lüftung und Versorgungsleitungen integriert.

Mithilfe dieses Ansatzes ist beispielsweise ein klassisches Mehrfamilienhaus mit 15 Wohneinheiten praktisch binnen neun bis zwölf Monaten schlüsselfertig und klimaneutral. Perspektivisch sind gar sechs Monate ab Vertragsunterzeichnung möglich.

Im Vergleich: Konventionelle Sanierungstechnik schafft das nur selten in 24 Monaten. Aktuell ist das innovative Verfahren zwar noch teurer als die herkömmlichen Lösungen.

Mithilfe der gewährten öffentlichen Subventionen schwindet der Kostenabstand jedoch dramatisch, während die Skalenvorteile der Standardisierung der Technologie zur Wettbewerbsfähigkeit verhelfen.

Gebäude werden künftig nicht mehr als Unikate, sondern industriell geplant

Gebäude sind bei dieser technologischen Revolution nicht mehr als Unikate zu planen und zu sanieren, sondern industriell, in sogenannter Mass-Customization. Das erfolgt nach außen weiterhin individuell und ästhetisch, nach innen aber über eine technologische Plattform, mit einheitlichen Modulen und darunterliegend mit einheitlichen Komponenten.

Hier kommt wieder die Politik ins Spiel, denn es bedarf einer aktiven Industriepolitik, diese Sanierungsindustrie mitzuorganisieren; eines Staats, der mitplant, mitfördert und wenn nötig ordnungspolitische Forderungen an die Gebäudeeigentümer stellt.

Es geht aber auch darum, die Infrastruktur und die zeitgemäße Ausbildung von Fachkräften zu gewährleisten und regulatorische Hemmnisse zu beheben.

So ist der unternehmerische Staat, für den die Ökonomin Mariana Mazzucato seit Langem einsteht, gefordert. Ein Staat, der Unternehmen in ihrer Innovationstätigkeit stärkt und sie langfristig planen lässt.

Nur in konzertierter Aktion von Staat, Wohnungs- und Immobiliensektor kann eine Sanierungsindustrie entstehen, die unsere Milliarden, die derzeit noch durch den Schornstein gehen, für ein ökologisches Wachstumsprogramm nutzt.

Letztlich ist das Gegenteil der sprunghaften staatlichen Intervention in der Energie-, Bau- und Wohnungspolitik des vergangenen Jahrzehnts gefragt.

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