PremiumDie geplante Reform bedroht die Gewaltenteilung. Die Bürger sollen als letzte Verteidigungslinie der Demokratie weiter dagegen protestieren, fordert Yuval Noah Harari.
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Yuval Noah Harari ist israelischer Historiker.
Bild: IMAGO/NICOLAS MAETERLINCK, dpa (M)
Seit Wochen protestieren Israelis im ganzen Land gegen eine geplante Justizreform, die sie für eine Bedrohung der Demokratie halten. Die Reform ermächtigt das Parlament, Urteile des obersten Gerichts mit einfacher Mehrheit aufzuheben, zudem sollen Politiker über die Ernennung von Richtern entscheiden. Auf der jüngsten Kundgebung in Tel Aviv forderte der weltberühmte Historiker Yuval Noah Harari seine Landsleute zum Widerstand auf. Hier seine Rede im Wortlaut.
Wir befinden uns mitten in einem historischen Tsunami. Dieser Tsunami schürt in uns weder Wut noch Hass – sondern Angst. Wir sind besorgt, wir schlafen nachts nicht, denn wir haben Angst. Und das ist völlig in Ordnung!
Es gibt Momente in der Geschichte, in denen Angst die vernünftigste Reaktion ist. Es gibt Momente in der Geschichte, in denen Angst notwendig ist, um uns zum Handeln anzutreiben. Heute haben wir einen exzellenten Grund, Angst zu haben, und wir haben einen exzellenten Grund zu handeln.
Lasst euch nicht täuschen: Was diese Regierung in die Wege leitet, ist keine Justizreform – es ist ein antidemokratischer Staatsstreich! Genau so sieht ein Staatsstreich aus.
Sie werden nicht immer mit Panzern auf den Straßen durchgeführt. Viele Staatsstreiche wurden in der Geschichte hinter verschlossenen Türen mit Kugelschreibern und Papieren durchgeführt, und wenn die Menschen die Bedeutung dessen, was in diesen Papieren stand, verstanden, war es zu spät, um Widerstand zu leisten.
Die Geschichte ist voll von Diktaturen, die von Menschen errichtet wurden, die zunächst mit legalen Mitteln an die Macht kamen. Das ist der älteste Trick, den es gibt: Erst benutzt man das Gesetz, um an die Macht zu kommen, dann benutzt man seine Macht, um das Gesetz zu verfälschen.
Betrachtet man die Gesetze, die diese Regierung derzeit vorbereitet, in ihrer Gesamtheit, gibt es nur eine einzige Interpretation (und man braucht dazu keinen Doktortitel in Rechtswissenschaften): Falls diese Gesetze verabschiedet werden, wird die Regierung die Macht haben, unsere Freiheit vollständig zu zerstören.
61 der 120 Mitglieder der Knesset können jedes rassistische, tyrannische und antidemokratische Gesetz verabschieden, das ihnen einfällt. 61 Abgeordnete der Knesset könnten auch das Wahlsystem ändern, um uns daran zu hindern, das Regime abzulösen.
Wenn wir die Anführer dieses Putsches fragen, was die Macht der Regierung unter dem neuen Regime in Schach halten wird und was die grundlegenden Menschenrechte schützen wird, haben sie nur eine Antwort: „Vertraut uns!“
(Premierminister) Netanjahu, (Justizminister) Levin, (Abgeordneter und Vorsitzender des Verfassungskomitees) Rothman: Wir trauen euch nicht! Ihr zerreißt den Vertrag in Stücke, der unsere Gesellschaft während 75 Jahren irgendwie zusammengehalten hat, und dann erwartet ihr von uns, dass wir euch vertrauen?
Wir trauen euch nicht, denn wir wissen sehr wohl, was ihr wollt: Ihr wollt unbegrenzte Macht. Ihr wollt uns mundtot machen und vorschreiben, was wir essen, was wir anziehen, was wir denken und sogar wen wir lieben dürfen. Aber ihr versteht nicht, mit wem ihr es zu tun habt.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (2. v.r.) mit Kabinettsmitgliedern
„Wir müssen jetzt unsere Köpfe erheben – oder uns für den Rest unseres Lebens ducken“, sagt Yuval Noah Harari.
Bild: IMAGO/APAimages
Israelis sind kein gutes Rohmaterial für die Herstellung von Sklaven. Wir Israelis sind hartnäckig, wir sind Freigeister, wir sind Trickser und niemand hat es je geschafft, uns zum Schweigen zu bringen. Wir werden es nicht zulassen, dass ihr Israel in eine Diktatur verwandelt.
Was wird also in den nächsten Wochen geschehen? Ihr werdet weiterhin versuchen, eure diktatorischen Gesetze zu verabschieden. Ihr werdet uns auch weiterhin als „Anarchisten“ und „Verräter“ bezeichnen und extreme Ereignisse ausnutzen oder sogar initiieren, um unseren Widerstand zu unterdrücken.
Wir aber werden weiter protestieren und dafür sorgen, dass die Richter des Obersten Gerichtshofs sowohl den Rückhalt der Bevölkerung haben als auch entschlossen sind, diese diktatorischen Gesetze zu Fall zu bringen.
Und was ist, wenn die Regierung sich weigert, Entscheide des Obersten Gerichtshofs zu akzeptieren? Dann schlittern wir in eine Verfassungskrise, in der es weder klare Regeln noch Gesetze gibt.
Von wem wird die Polizei dann ihre Befehle entgegennehmen – von der Regierung oder vom Gericht? Von wem werden der (Inlandsgeheimdienst) Shin Bet und der Mossad ihre Befehle erhalten?
Wem werden die IDF (Israel Defense Forces) gehorchen?
Und die wichtigste aller Fragen: Was werden die Bürger tun? Die Meinungsumfragen zeigen eindeutig: Eine große Mehrheit der Israelis lehnt ab, was diese Regierung tut. Aber Umfragen halten Diktaturen nicht auf.
Die Geschichte lehrt uns, dass die letzte und wichtigste Verteidigungslinie in jeder Demokratie die Bürger sind – und das seid ihr. Demokratie ist ein Deal, wonach die Bürger die Entscheidungen der Regierung respektieren müssen unter der Bedingung, dass die Regierung die Grundfreiheiten der Bürger respektiert.
Wenn eine Seite die Abmachung bricht, muss die andere Seite ihren Teil nicht mehr erfüllen. Wenn eine Regierung versucht, eine Diktatur zu errichten, dürfen die Bürger Widerstand leisten. Dies ist eine historische Prüfung für die Bürger Israels, und wenn wir sie nicht bestehen, werden wir keine zweite Chance erhalten.
Wir müssen jetzt unsere Köpfe erheben – oder uns für den Rest unseres Lebens ducken. Wir müssen jetzt unsere Stimmen erheben – oder für den Rest unseres Lebens den Mund halten. Es ist deshalb nötig, zu protestieren, zu schreien – aber auch stehen zu bleiben.
Als Universitätsprofessor hoffe ich zum Beispiel, dass alle akademischen Einrichtungen Israels in den Streik treten werden, solange dieser antidemokratische Coup andauert. Natürlich müssen wir unsere Studenten in diesen schwierigen Zeiten weiterhin unterstützen, aber dies ist der Moment, um alle regulären Kurse einzustellen und nur noch Demokratie, Menschenrechte und Freiheit zu lehren.
Auch wenn es einigen von uns schwerfällt, offiziell zu streiken – ich bin überzeugt, dass wir Israelis kreative Wege finden werden, um schnell zu reagieren und Befehle zu ignorieren. Jeder von uns kann dem antidemokratischen Putsch einen kleinen Strich durch die Rechnung machen.
Da mir das Mikrofon überlassen wurde, möchte ich die Gelegenheit als typischer Israeli nutzen, um einige persönliche Botschaften zu übermitteln. An Esther Hayut, die oberste Richterin am Obersten Gerichtshof, und an Gali Baharav-Miara, die Generalstaatsanwältin: Ihr seid mit einer der schwierigsten und wichtigsten Aufgaben in der Geschichte Israels betraut worden.
Dies ist eine große Verantwortung, aber auch ein großes Privileg. Dies ist euer Moment, Geschichte zu schreiben. Zögert nicht und macht keinen Rückzieher – schützt unsere Freiheit!
An Präsident Herzog und die Vorsitzenden der Oppositionsparteien: Schützt unsere Freiheit und geht keine Kompromisse ein! Wenn ein Tiger kommt, um uns zu fressen, können wir keinen Kompromiss aushandeln, bei dem der Tiger nur die Hälfte unseres Körpers frisst.
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An die Soldaten der Reserve, die sich überlegen, was sie tun können: Dient keinen Diktatoren! Ihr habt einen Vertrag mit der israelischen Demokratie, nicht mit ihren Leichenbestattern.
An die Armee, den Shin Bet, den Mossad und die israelische Polizei: Wenn der Moment der Wahrheit kommt, trefft die richtige Entscheidung! Geht als Beschützer der Bürger in die Geschichte ein – und nicht als Diener von Despoten.
An alle Demonstranten, die heute Abend hier und in ganz Israel protestieren – euch will ich nur sagen: Ich liebe euch.
Und zu guter Letzt möchte ich eine klare Botschaft von uns allen an Netanjahu, Levin, Rothman und ihre Kollegen übermitteln: Ihr habt zwar 64 Finger in der Knesset, aber das bedeutet nicht, dass ihr diese Finger überall hinstecken dürft, wo ihr wollt.
Lasst die Finger von unserer Freiheit. Stoppt den Putsch – oder wir werden das Land stoppen.
Der Autor:
Yuval Noah Harari ist israelischer Historiker. Er lehrt seit 2005 an der Hebräischen Universität Jerusalem und ist Autor des Bestsellers „Eine kurze Geschichte der Menschheit“.
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