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06.02.2022

14:21

Gastkommentar

Lehren aus dem Sturm: Wie die Versicherungslücke in Deutschland verkleinert werden kann

PremiumNaturkatastrophen ziehen oft ungedeckte milliardenschwere Schäden nach sich. Digitale Versicherungslösungen können das Problem entschärfen, meint Christian Mumenthaler.

Christian Mumenthaler ist Vorstandsvorsitzender des Rückversicherers Swiss Re und Co-Vorsitzender der Alliance of CEO Climate Leaders des Weltwirtschaftsforums. Bloomberg

Der Autor

Christian Mumenthaler ist Vorstandsvorsitzender des Rückversicherers Swiss Re und Co-Vorsitzender der Alliance of CEO Climate Leaders des Weltwirtschaftsforums.

Der Sturm „Nadia“ hat Ende Januar weite Teile Norddeutschlands lahmgelegt. Es gab eine Sturmflut, Bäume stürzten um, ein Fußgänger starb. Das Swiss Re Institute rechnet mit versicherten Schäden im niedrigen dreistelligen Millionen-Euro Bereich – allein für Deutschland. Zusätzlich zu den Schäden durch die hohe Windgeschwindigkeit verursachte die nachfolgende unerwartete Sturmflut Zerstörungen an den Küsten der Nord- und Ostsee, von England über Polen bis Finnland.

Bereits im Sommer haben Starkregenfälle und die Flutkatastrophe insbesondere in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gezeigt: Als Folge der Klimakrise müssen wir uns besser auf extremere Wetterereignisse vorbereiten.

Kommt es im eigenen Land zu Naturkatastrophen, sollte dies ein Weckruf für jeden Einzelnen sein, sich wirksamer gegen solche Gefahren und ihre Folgeschäden abzusichern. Die Gesellschaft ist nur dann gegen Klimarisiken gewappnet, wenn jede und jeder zur Absicherung beiträgt.

Man sollte es nicht darauf ankommen lassen, dass der Staat in der Not zur Hilfe eilt. Nach dem Sturm „Nadia“ dürfte auch der nächste Weckruf nur eine Frage der Zeit sein.

Bei Winterwetter denken wir zwar nach wie vor in erster Linie an romantisch verschneite Landschaften. Doch zu dieser Jahreszeit gehören auch zerstörerische Unwetterereignisse wie beispielsweise im vergangenen Jahr „Sabine“. Eine Auswertung des Swiss Re Institute für das Handelsblatt zeigt: Die Anzahl verheerender Stürme hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.

So trafen Deutschland seit 1980 exakt 16 große Winterstürme mit Schadenskosten von jeweils mehr als 500 Millionen Euro – allein sieben waren es in der Zeit zwischen 2015 und 2020, darunter „Niklas“, „Herwart“ und „Friederike“.

Die wirtschaftlichen Schäden der 16 Unwetterereignisse beliefen sich auf insgesamt 32 Milliarden Euro, wovon 37 Prozent – also zwölf Milliarden Euro – nicht versichert waren und in erster Linie von Privathaushalten und Unternehmen geschultert werden mussten.

Die Deutschen sind unterversichert

Diese hohe Deckungslücke ist alles andere als ein Zufall. Deutschland hat unter den G7-Staaten die geringste Versicherungsdurchdringung. Die Folgen der Unterversicherung zeigten sich auch bei den verheerenden Fluten im Juli, als private Hausbesitzer mit hohen Schadenskosten konfrontiert waren, für die kein Versicherungsschutz bestand. Die Hauptursache für die Lücke ist bekannt: Die obligatorische Wohngebäudeversicherung kommt nur für Gebäudeschäden durch Blitzschlag, Hagel und Sturm ab Windstärke 8 auf.

Eine zusätzliche Elementarschadenversicherung, die von Stürmen hervorgerufene Gefahren wie Hochwasser, Erdrutsch oder Starkregen abdeckt, gibt es bislang nur für 46 Prozent der Wohngebäude in Deutschland.

Für mehr als die Hälfte der Gebäude wurde also keine Elementarschadenversicherung abgeschlossen. Die Not der Hochwasser-Opfer des Sommers wird zwar durch den 30 Milliarden Euro schweren staatlichen Hilfsfonds gelindert.

Aber so verständlich es ist, Menschen in Not mit Steuergeldern unter die Arme zu greifen – es ist nicht die Aufgabe des Staates, Elementar- und andere Schäden abzusichern. Die Versicherungsbranche übernimmt diese Rolle effizienter und nicht auf Kosten der Allgemeinheit. Aufgabe der Branche ist es, die finanziellen Risiken solcher Naturkatastrophen zu tragen. Darüber hinaus muss sie aber auch Anreize schaffen, um den Risiken vorzubeugen – sei es mit der Förderung von Hochwasserschutz-Maßnahmen oder mit Prämien, die das Bauen außerhalb von Gefahrenzonen begünstigen.

Wer sich dabei einzig und allein auf eine mögliche Pflichtversicherung verlässt, denkt zu kurz. Wenn die Branche tatsächlich einen größeren Beitrag leisten will, muss sie den Zugang zu Versicherungen erleichtern, unabhängig von der Debatte um eine Versicherungspflicht. Deshalb sollte die Versicherungsindustrie ihre digitale Transformation als Chance sehen, bestehende Zugangshürden abzubauen.

Potenzial der Digitalisierung nutzen

Das Potenzial der Digitalisierung zeigt sich zum Beispiel bei Versicherungslösungen gegen Hochwassergefahren, die Echtzeit-Radarsatellitenaufnahmen nutzen. Modelle, die auf detaillierteren Daten basieren, analysieren bisher unzugängliche Risikoinformationen – für abgelegene Täler genauso wie für Stadtzentren.

In Überschwemmungsgebieten der USA können Versicherer schon Hochwasserversicherungen maßgeschneidert pro Haus anbieten. Das ist besonders in Gegenden, die zuvor als nicht versicherbar galten, ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen die Unterversicherung.

Der Versicherungs-Thinktank Geneva Association hat die Hauptgründe für die Unterversicherung in reifen Märkten wie Deutschland untersucht. Neben finanziellen Gründen halten vor allem die mangelnde Klarheit und Transparenz der Produkte sowie die geringe Nutzerfreundlichkeit beim Kauf und bei der Schadensabwicklung Menschen davon ab, eine Versicherung abzuschließen. Mit einer digitalisierten Wertschöpfungskette lassen sich die immer noch sehr traditionellen Prozesse der Versicherungen vereinfachen und beschleunigen.

Jederzeit im Internet abrufbare Angebote und Online-Verträge sind in anderen Dienstleistungsbranchen längst die Norm. Doch bei Versicherungen gehen in Deutschland, abgesehen von einigen wenigen Produktkategorien, bislang weniger als 15 Prozent der Prämien auf Verträge zurück, die online abgeschlossen wurden.

Auch automatisierte Risikoprüfungen sind noch nicht Standard. Gerade der jüngeren Generation künftiger Immobilienkäufer ist es unverständlich und mitunter auch suspekt, wenn es mehrere Tage dauert, ihre Versicherbarkeit zu prüfen.

Einfache und transparente Kaufprozesse können einen wichtigen Beitrag leisten, die Unterversicherung anzugehen. Nicht weniger bedeutend sind digitale Ansätze, die Schadensbearbeitung zu beschleunigen.

Das Bedürfnis nach unkomplizierten, effizienten Angeboten befriedigen bereits einige Fahrzeugversicherungen. Hier reicht es, ein Foto des Schadens einzusenden, um eine Auszahlung und gleichzeitig Hilfe für die Reparatur zu erhalten. Auch im Gebäudebereich gibt es erste Versicherungen, bei denen Schadensmeldungen bereits mit Satellitenaufnahmen abgewickelt werden.

Risiken können genauer vorausgesagt werden

Ein weiterer wichtiger Vorteil digitaler Technologien für die Assekuranz sind ihre Fähigkeiten, präzisere Daten und Analysen zu liefern, um Risiken genauer voraussagen zu können. Für Versicherungen heißt das: Sie können künftig neben finanziellen Risikotransfers zusätzlich ihre Risikokenntnisse zur Prävention anbieten.

Dadurch helfen sie, Gefahren vorzubeugen, was die Schadenskosten verringern kann und niedrigere Prämien ermöglicht. Gerade bei Extremwetterereignissen, deren saisonales und konkretes Auftreten sich dank immer besserer Modelle vorhersagen lassen, bietet ein stärkerer Fokus auf präventive Maßnahmen erhebliches Potenzial.

Natürlich sind digitale Versicherungslösungen keine Allheilmittel. Aber ich bin überzeugt, dass die Digitalisierung einen großen Sprung nach vorn ermöglicht, um Zugangshürden zu überwinden und damit die Versicherungslücke zu verkleinern. Auch in Deutschland sollten künftige Winterstürme weniger Lücken als heute in die staatlichen und privaten Haushaltsbudgets reißen.

Der Autor: Christian Mumenthaler ist Vorstandsvorsitzender des Rückversicherers Swiss Re und Co-Vorsitzender der Alliance of CEO Climate Leaders des Weltwirtschaftsforums.

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