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15.03.2023

19:15

Gastkommentar

Mehr Mut beim Strukturwandel

Die Probleme bei der Transformation der Wirtschaft müssen offen auf den Tisch, um Lösungen zu finden. Nur dann kann es gelingen, neue Abhängigkeiten zu verhindern, analysiert die Wirtschaftsweise Veronika Grimm.

Veronika Grimm ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der FAU Erlangen-Nürnberg und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Die Autorin

Veronika Grimm ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der FAU Erlangen-Nürnberg und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Kaum eine Frage wird in Deutschland so lebhaft diskutiert wie die Gefahr der Deindustrialisierung infolge höherer Energiepreise. Man sollte hier allerdings nicht generalisieren.

Während der Anteil der Energie- an den Gesamtkosten etwa in der Automobilindustrie und dem Maschinenbau wenig ins Gewicht fällt, ist er in Branchen wie der Stahl- und Chemieindustrie sehr hoch. Für energieintensive Branchen weist die Umstellung der Produktion mithilfe von klimaneutralem Wasserstoff meist den einzigen Weg in die Klimaneutralität.

Die Herausforderungen etwa für die Stahl- und Chemieindustrie sind immens. Wollte man die energieintensiven Produktionsstandorte komplett in Deutschland erhalten, wären zwischen 200 und 250 Terawattstunden (TWh) klimaneutraler Wasserstoff nötig, je nachdem, ob man maximal möglich elektrifiziert oder weitgehend auf Wasserstoff setzt. Würde der Wasserstoff per Elektrolyse produziert, liefe das für die energieintensiven Branchen pro Jahr auf einen Strombedarf von 280 bis 350 TWh hinaus. Zum Vergleich: Die gesamte deutsche Stromerzeugung lag im vergangenen Jahr bei 580 TWh.

Hierzulande ist geplant, bis zum Jahr 2030 zwischen 28 und 35 TWh Wasserstoff jährlich selbst erzeugen zu können – was weit hinter der Wasserstoffnachfrage der energieintensiven Industrien zurückbleibt. Wir müssen also schon bald große Mengen klimafreundlichen Wasserstoff importieren.

Künftig dürfte Wasserstoff vor allem an Standorten produziert werden, wo die Stromnachfrage vor Ort, anders als in Europa, niedrig ist und es gute Bedingungen für erneuerbare Energien gibt – also etwa auf der Arabischen Halbinsel, in Kanada oder Australien, Namibia, Argentinien oder Chile. Der Wasserstoff würde überwiegend auf dem Seeweg nach Deutschland kommen.

Kosteneinsparungen von bis zu 25 Prozent

Allerdings kann man reinen, gasförmigen Wasserstoff nicht ohne Weiteres auf dem Seeweg transportieren. Er muss zunächst in einen geeigneten flüssigen Energieträger umgewandelt werden. Zeitnah verfügbare Optionen sind die Weiterverarbeitung zu Ammoniak und Methanol, die schon heute aus Wasserstoff hergestellt, weltweit gehandelt und transportiert werden.

Der optimale Transportpfad hängt nicht zuletzt vom geplanten Einsatz des Wasserstoffs ab. So benötigt beispielsweise die Stahlerzeugung reinen Wasserstoff. Bei anderen Anwendungen ist zu erwarten, dass Importe von Wasserstoffderivaten heimische Produktion ablösen werden. So sind Ammoniak und Methanol in der chemischen Industrie Zwischenprodukte auf dem Weg zur Produktion von Düngemitteln, Formaldehyd und Essigsäure.

Berechnungen zeigen, dass bei der Ethylen- und Düngemittelproduktion etwa 25 Prozent der Kosten eingespart werden könnten, wenn man Ammoniak und Methanol von geeigneten ausländischen Standorten importiert, statt diese Vorprodukte in Deutschland herzustellen. Auch deshalb fanden wohl die letzten großen Investitionen der hiesigen Chemieindustrie außerhalb Europas statt. Fällt die Entscheidung über künftige Produktionsstandorte nach rein privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten, dürften sich nach und nach ganze Standorte verlagern.

Das könnte die in Deutschland betroffenen Regionen schnell überfordern. Die Menschen hätten berechtigte Angst vor dem abrupten Wandel, dem Verlust von Arbeitsplätzen und fehlenden Alternativen.

Deshalb sollte die Politik gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften schnell klären, wie in betroffenen Regionen alternative Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden können. Außerdem ist darauf zu achten, die strategische Souveränität Deutschlands und Europas nicht zu gefährden, wenn wichtige Vorprodukte nicht mehr auf dem Kontinent produziert werden und bei Importen wegen fehlender Diversifizierung Abhängigkeiten entstehen.

Politik muss ihr Instrumentarium nutzen

Es muss möglichst rasch entschieden werden, welche politischen Weichenstellungen nötig sind. In einigen Branchen wie der Stahlindustrie ist der Erhalt von Standorten sinnvoll – nicht zuletzt, um technologische Kompetenz bei den neuen klimaneutralen Verfahren aufzubauen. Aber auch hier kann es teilweise zum Import von Zwischenprodukten wie zum Beispiel Eisenschwamm kommen.

Wo Produktionsverlagerung nicht verhindert werden kann, sollten neue Abhängigkeiten tunlichst vermieden werden. Dazu könnten etwa Vorprodukte importiert werden, für die es Commodity-Märkte gibt, also standardisierte und qualitativ gleichbleibende Produkte global gehandelt werden. Zu achten ist auch auf die Diversifizierung der Lieferbeziehungen.

Die Politik sollte konsequent das ihr zur Verfügung stehende Instrumentarium nutzen, um künftige Abhängigkeiten zu verhindern. Dazu gehört der Aufbau von strategischen Partnerschaften mit künftigen Handelspartnern ebenso wie der lenkende Einsatz staatlicher Garantien. Fest steht: Es gibt genügend Länder, aus denen wir Vorprodukte importieren können. Allerdings müssen wir aktiv darauf hinarbeiten, nicht wieder einseitig abhängig zu werden.

Die Autorin: Veronika Grimm ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der FAU Erlangen-Nürnberg und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

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