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16.12.2021

09:00

Gastkommentar

Realpolitik bedeutet, sich ehrlich zu machen, anstatt empört zu sein

PremiumDer Gegensatz Demokratie versus Autokratie taugt nicht als geostrategisches Handlungsmuster, analysiert Jürgen Trittin. Schließlich ist internationale Politik nun einmal Interessenpolitik.

Der Autor ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Er war Vorsitzender der Partei und in der Regierung von Gerhard Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. dpa, Montage

Jürgen Trittin

Der Autor ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Er war Vorsitzender der Partei und in der Regierung von Gerhard Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

US-Präsident Joe Biden hat jüngst zum „Summit for Democracy“ geladen. Tatsächlich ist der Kampf für die Herrschaft des Rechts, für Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit über nationale Grenzen hinweg eine notwendige Antwort auf das zunehmende Vordringen autoritärer Systeme. Nach einem aktuellen Report der Bertelsmann Stiftung garantiert weltweit nur noch ein Drittel aller Regierungen demokratische Teilhabe.

Es handelte sich um einen Gipfel für Demokratie – allerdings nicht um einen Gipfel von Demokraten. Damit unterscheidet sich Bidens Gipfel von Bestrebungen, unter der Fahne der Demokratie eine neue weltweite Blockbildung voranzutreiben. Eine solche Blockbildung wäre nicht zielführend – vor allem läge sie nicht im Interesse Europas.

Will sich der „alte Kontinent“ im Zeitalter der neuen Bipolarität zwischen den USA und China nicht dem Zwang aussetzen, eine Entscheidung für die eine Supermacht und gegen die andere zu treffen, braucht er Bündnispartner mit ähnlichen oder gleich gelagerten Interessen in Asien und Lateinamerika – insbesondere unter den Schwellenländern, die heute die Mehrheit der G20-Staaten bilden.

Gerade die Länder des globalen Südens aber nehmen Europa und die USA weniger als Demokratien wahr denn als ehemalige Kolonialmächte. Deutschland etwa brauchte mehr als 100 Jahre, um die eigenen Verbrechen im heutigen Namibia als Völkermord anzuerkennen. Politiker der Bundesrepublik zeigen sich immer noch verwundert, wenn die Fregatte „Bayern“ nicht in den Hafen von Schanghai einlaufen darf.

Weiß unsere politische Klasse nicht mehr, dass der chinesische Boxeraufstand unter Führung von Wilhelms II. kaiserlicher Marine vor 120 Jahren blutig niedergeschlagen wurde? Demokratie und Kolonialismus, das zeigt die Geschichte, sind kein Gegensatzpaar. Die Entkolonialisierung Kenias etwa wurde ebenso wie die Unabhängigkeit Indiens gegen die Westminster-Demokratie erkämpft, die Freiheit Algeriens gegen Frankreichs Republik.

Die USA überzogen Lateinamerika mit Militärdiktaturen

Das Narrativ der Demokratie, auch das verdeutlicht die Geschichte, darf nicht mit der Realpolitik der Staaten des demokratischen Kapitalismus verwechselt werden. Die Nato behauptet, eine Wertegemeinschaft zu sein – und hatte das faschistische Portugal 1949 als Gründungsmitglied. Bis heute ist das autokratische Regime von Recep Tayyip Erdogan Teil des Nordatlantikpakts – die Türkei wird mit hochmodernen Waffen beliefert.

Als Vietnam versuchte, sich auf friedliche Weise zu vereinigen, begannen die USA, es „in die Steinzeit“ zurück zu bomben. Selbst vor dem Einsatz chemischer und biologischer Waffen schreckten die Vereinigten Staaten nicht zurück, um „die freie Welt“ vor der angeblichen Gefahr des Kommunismus zu schützen.

Seinen „Hinterhof“ Lateinamerika überzog Washington aus Angst vor Sozialdemokraten wie Chiles Staatschef Salvador Allende mit Militärdiktaturen. Die dortigen Demokratien wurden oft von linken Guerilleras gegen den Widerstand der USA durchgesetzt. In Brasilien und Uruguay stiegen ehemalige „Terrorist:innen“ zu Präsident:innen auf.

Es ist also alles andere als eine neue Erkenntnis: Im Zweifel betreiben die Staaten des demokratischen Kapitalismus handfeste Interessenpolitik. Das sollte uns Demut lehren. Aus Sicht vieler außereuropäischer Länder sind die viel beschworenen „westlichen Werte“ nicht mehr wert als Xi Jinpings Formel vom „gemeinsamen Schicksal der Menschheit“. Man hält sie vor allem für Propaganda im Dienst eigener Interessen.

Wie wäre es mit Realpolitik?

Wie wäre es, anstatt darüber empört zu sein, sich ehrlich zu machen? Dazu zu stehen, dass internationale Politik nun einmal Interessenpolitik ist? Kurz: Wie wäre es mit Realpolitik? Sicher, eine solche Realpolitik wäre unbequem. Europa hat überragende gemeinsame Interessen mit den USA, und zwar mehr als mit jedem anderen Land. Aber eben auch handfeste unterschiedliche Interessen, wie wir nicht erst seit der Präsidentschaft von Donald Trump wissen. Die ebenso bequeme wie populäre Einteilung der Welt in Gut und Böse funktioniert nicht. In der globalisierten Welt dominieren „fifty shades of grey“.

Statt ideologische Mauern hochzuziehen und eine neue bipolare Welt zu beschwören, muss sich Europa auf gemeinsame globale Interessen konzentrieren. Ohne die USA und China wird es beispielsweise keine Entschärfung der Klimakrise geben – und auch keinen erfolgreichen Kampf gegen die globale Armut.

Auf gemeinsamen Interessen beruhende Partnerschaften können Europas technologische Souveränität voranbringen. Es ist beispielsweise nicht im Sinne dieser Souveränität, bei Cloud-Technologien von chinesischen oder amerikanischen Tech-Giganten abhängig zu sein, die neben den privatwirtschaftlichen Oligopolen auch den dortigen Geheimdiensten endlose Möglichkeiten der Datenerhebung und Verarbeitung bieten. Wo europäischer Datenschutz draufsteht, sollte auch europäische Industriepolitik drin sein.

Darüber hinaus muss Europa dringend eine eigene Bündnispolitik gegenüber den Staaten Südostasiens entwickeln. Denn die Systemrivalität zwischen Demokratien und Autokratien ist nicht im Interesse der Asean-Staaten. Sie wollen nicht gezwungen werden, zwischen den USA und China wählen zu müssen.

Der demokratische Kapitalismus muss sich nicht verstecken

Während die USA gebraucht werden, um Chinas Machtansprüchen im Südchinesischen Meer etwas entgegenzusetzen, ist China als wichtigster Handelspartner entscheidend für Wachstum und Wohlstand im Asien-Pazifik-Raum. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint ein EU-Handelsabkommen mit dem autokratischen Vietnam nicht nur begrüßenswert, sondern klug.

Keine Frage: Derartige internationale Handelsabkommen sind nicht geeignet, die Welt zu demokratisieren. Sie bieten aber eine Chance, global vereinbarte Regeln durchzusetzen – vom Pariser Klimaabkommen bis zum Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit. Hier wirkt die Europäische Union nach wie vor viel zu verzagt. Multilateral vereinbarte Normen sichern eben nicht nur universale Werte, sie entsprechen auch Europas Interessen. Ein wirksames EU-Lieferkettengesetz etwa ist nicht nur aus moralischer Sicht richtig, es garantiert darüber hinaus auch Schutz für sauber arbeitende Unternehmen.

In einer solchen Realpolitik spielen globale Werte sichtbar eine Rolle – aber anders als in einer Geostrategie Demokratie versus Autokratie. „Der primäre Konflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus wird nicht zwischen Ländern ausgetragen, sondern in ihrem Inneren“, schreibt der US-Politiker Bernie Sanders und verweist auf das eigene Land. Dasselbe gilt auch für Ungarn und Polen.

In der Systemrivalität mit autoritären Staaten müssen sich die Länder des demokratischen Kapitalismus nicht verstecken. Denn warum bunkern russische Oligarchen oder Funktionäre der Kommunistischen Partei Chinas wohl ihre privaten Vermögen in Europa oder den USA? Weil sie wissen, dass Rechtssicherheit eine historische Errungenschaft des demokratischen Kapitalismus ist.

Der Kampf um Demokratie in unseren Gesellschaften, gelassenes Selbstbewusstsein und Demut vor der eigenen Geschichte sind für eine wertebasierte Realpolitik wichtiger als jede neue Blockbildung.

Der Autor: Jürgen Trittin ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Er war Vorsitzender der Partei und in der Regierung von Gerhard Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

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