Man muss sich nicht dafür grämen, Neujahrsvorsätze sofort wieder zu begraben. Moralische Stärke kann man ja auch daraus ziehen, immerhin nicht so schlimm zu sein wie andere.
Der Autor
Tillmann Prüfer ist Mitglied der Chefredaktion des „Zeit-Magazins“.
Ich habe das neue Jahr mit vielen guten Vorsätzen begonnen, die ich hier nicht weiter ausführen muss, weil die allermeisten davon schon gebrochen sind, wenn diese Zeilen veröffentlicht sind. Ich schäme mich für meine Passivität.
Ich bin einfach ein viel weniger starker, guter Mensch, als ich gern wäre. Weniger diszipliniert und weniger fähig, Dinge, die man als richtig erkannt hat, dann auch umzusetzen.
Meine Disziplinlosigkeit als lässige Charaktereigenschaft vor mir herzutragen, dafür reicht mein Schlendrian auch wieder nicht. Ich bin stets einigermaßen bemüht, die Dinge im Lot zu halten, das alles ist irre anstrengend und mäßig erfolgreich. Alles in allem eben Durchschnitt. Das ist aber nicht so schlimm, denn ich schaue gern auf Menschen, die es noch schlechter machen als ich. Ich kann mich glänzend darüber entrüsten.
All die Bösewichte und Tunichtgute leisten mir in diesem Sinne gute Dienste, indem sie sich von mir verurteilen lassen. Ich mache das eigentlich den ganzen Tag.
Ich mache das, wenn Leute schnell noch an einer Zigarette ziehen, bevor sie zu mir in den Aufzug springen. Oder im Bus zu laut zu schlechte Musik hören. Ich entrüste mich auch mit großem Eifer über SUV-Fahrer, die mit Tempo 50 durch die 30er-Zone fahren, über Leute in meinem Haus, die den Müll nicht richtig trennen, und über Hundehalter, die nicht ordentlich die Haufen ihrer Vierbeiner vom Asphalt kratzen. Es ist diese stete Welle an Schlechtigkeit, die mich einigermaßen moralisch Oberwasser behalten lässt.
Das ist sogar philosophisch gedeckt. Ich habe in der „New York Times“ einen Artikel des Philosophieprofessors Crispin Sartwell gelesen, der schreibt, dass Menschen nicht nur nach ihren guten Taten oder ihren schlechten Taten bewertet werden sollten. Man sollte sie auch an den denkbaren schlechten Taten messen, die sie nicht begangen haben. „Ich verdiene großes Lob für all meine Zurückhaltung“, schreibt er etwa.
Seine Argumentation: Wenn wir unterlassene Hilfeleistung als ähnlich problematisch sehen wie eine Gewalttat, dann muss unterlassene Bosheit ähnlich positiv bewertet werden wie gute Taten. Wenn man also bewusst etwas Schlechtes nicht tut, dann darf man sich selbst dafür loben.
Man hätte ja auch mit einem SUV durch die verkehrsberuhigte Zone schießen können, den Restmüll ins Altpapier kippen können oder einen großen dicken Hund den Gehweg beschmutzen lassen können. Man hat es aber nicht getan.
Also sollten meine Vorsätze künftig sein, weiter nichts zu tun. Und andere sollen weiter moralisch versagen. So wird es ein gutes Jahr 2023.
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