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04.10.2022

12:58

Gastkommentar – Homo oeconomicus

Der Streit über das Bürgergeld zeigt: Gesellschaften sind keine Ökonomien

Für Manager stellt sich regelmäßig die Frage, wie sich Angestellte zur Arbeit motivieren lassen, sagt Jens Beckert. Das Bürgergeld rückt das Thema auch gesellschaftlich in den Fokus.

Mitarbeiter achten zunehmend auf ihre Work-Life-Balance. Stone/Getty Images

Mann in einem Büro

Mitarbeiter achten zunehmend auf ihre Work-Life-Balance.

„Warum arbeiten die Arbeiter?“ betitelte der Mannheimer Soziologe Johannes Berger vor fast 30 Jahren einen Artikel. Darin ging es um das, was Ökonomen „Arbeitskraftextraktionsproblem“ nennen, ein Thema, das die kapitalistische Wirtschaftsordnung seit jeher begleitet.

Wie stellt man sicher, dass die für ihre Arbeitszeit entlohnten Mitarbeiter tatsächlich arbeiten, statt zu bummeln? Die jüngste Kontroverse um das Bürgergeld speist sich aus dieser Befürchtung, einige Arbeitnehmer könnten sich zukünftig nicht mehr für die Arbeit interessieren.

Im Frühkapitalismus zeigten sich die Arbeiter oft wenig interessiert daran, die Produktion zu maximieren. Sie hingen an ihrer traditionellen Lebensweise, sehr zum Ärger der Unternehmer. Der arbeitsfreie Montag, Desinteresse an Einkommenssteigerungen durch Mehrarbeit und Alkohol während der Arbeit waren Auswirkungen davon.

Die Arbeitgeber reagierten mit Fabrikordnungen, Drohungen und Anreizen. In der Managementlehre hat dies Spuren in Konzepten wie dem Taylorismus, der Human Relations School, der Humanisierung der Arbeit, dem Lean Management oder dem Arbeitsalltag im Open Space hinterlassen. Alles Konzepte, die das Ziel haben, die Mitarbeiter zur Arbeit im Sinne der Unternehmensziele zu bewegen.

Eine disziplinierende Wirkung fehlt

Beilegen lässt sich das Problem nicht. Im Wirtschaftsleben steht die Handlungslogik der Effizienz und Gewinnsteigerung in Konkurrenz mit den lebensweltlichen Bedürfnissen der Menschen. Diese lassen sich nicht einfach auf Produktionsfaktoren reduzieren. Berger wies auf die Bedeutung von moralischen Einstellungen hin, ohne die sich das Problem nicht lösen ließe.

Jens Beckert ist Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. David Ausserhofer

Jens Beckert

Jens Beckert ist Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung.

Die Mitarbeiter müssten sich verpflichtet fühlen, ihre Arbeitskraft effizient einzusetzen. Kontrollen könnten immer unterlaufen werden und Anreize hätten beschränkte Wirkung. Verstärkt wird das Problem in Zeiten der Vollbeschäftigung, wenn die disziplinierende Wirkung von Arbeitslosigkeit fehlt.

Aktuell begegnet uns dieses Spannungsverhältnis wieder. „The great resignation“ nennen die Amerikaner das Phänomen, dass Millionen Menschen nach der Pandemie ihre Arbeitsverhältnisse kündigten und eine Auszeit nehmen oder nach einem besseren Job suchen. „Quiet quitting“ ist die Einstellung, es bei der Arbeit etwas langsamer anzugehen, um auf sich selbst und die „Work-Life-Balance“ zu achten.

Dass Arbeitnehmer mobile Arbeit einfordern, zeigt das Bedürfnis, dem Büroalltag zu entgehen und langes Pendeln zu meiden. Hier sind sich die Arbeitgeber uneins, welche Auswirkungen auf die Produktivität zu erwarten sind. Bedarf es Kontrolle oder Vertrauen? Steigert Zufriedenheit mit Heimarbeit die Produktivität?

Wir erleben mit der Debatte über das Bürgergeld eine neue Runde in einem Dauerkonflikt, der vor allem eins zeigt: Gesellschaften sind keine Ökonomien, noch nicht einmal in der Ökonomie selber. Damit muss die Wirtschaft zurechtkommen.

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