Ein Großteil der pflegenden Personen sind Familienangehörige. Bald werden nicht mehr genug davon da sein, um die häusliche Pflege ehrenamtlich zu übernehmen, warnt Uta Meier-Gräwe.
Pflege
Zwei Drittel der pflegenden Angehörigen sind Frauen im Alter zwischen 45 und 60 Jahren.
Bild: Imago/Westend61
Pflegende Angehörige werden von der Politik in Sonntagsreden gern als „Pflegedienst Nr. 1“ gelobt. In der Tat: Vier von fünf pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden dem Statistischen Bundesamt im Jahr 2020 zufolge zu Hause betreut, gepflegt, versorgt. Dabei geraten viele Pflegende an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und kämpfen mit bürokratischen Hürden.
So heißt es etwa bei der Deutschen Rentenversicherung: „Bei der Pflege durch Familienangehörige oder Verwandte gehen wir grundsätzlich davon aus, dass sie Ihre Pflege ehrenhalber ausüben. Dabei spielt es keine Rolle, ob Sie als Pflegende dafür eine finanzielle Anerkennung erhalten.“
Zwei Drittel der pflegenden Angehörigen sind Frauen im Alter zwischen 45 und 60 Jahren. Zu dem Schluss kommt ein Gutachten des Sozialverbands Deutschland (SoVD). Die Frauen sind häufig nur in meist kleiner Teilzeit erwerbstätig oder haben ihren Beruf gänzlich aufgeben müssen. Viele bleiben dadurch zeitlebens abhängig vom Ehemann oder sind auf Grundsicherung im Alter angewiesen.
Die Erhöhung der Pflegesachleistungen durch die Pflegereform 2022 war für sie enttäuschend: Für einen Menschen mit Pflegegrad 3 stehen nun mit 1363 Euro ganze 65 Euro mehr zur Verfügung. Wer auf einen Pflegedienst verzichtet und die Pflege eines Angehörigen vollständig selbst übernimmt, profitiert gar nicht von der Reform.
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Eine aktuelle Studie der Universität Bielefeld ergab, dass Frauen von ihren Familien oft erheblich unter Druck gesetzt werden, die Pflege zu übernehmen. Dahinter stehen meist ein tradiertes Rollenverständnis und die Angst der alten Eltern, „abgeschoben“ zu werden.
Also werden die Töchter zur Pflege verpflichtet. Typisch weibliche Lebensläufe bestärken oft solche Entscheidungen. Weil Frauen bereits wegen der Kinder über Jahre in Teilzeit oder auf Minijob-Basis erwerbstätig waren, erscheint es im Bedarfsfall „vernünftig“ zu sein, wenn die Tochter dann auch unentgeltlich die Pflege übernimmt.
Uta Meier-Gräwe
Uta Meier-Gräwe war bis 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Beraterin der Bundesregierung.
Bild: Gleichstellungsbüro Freiburg
Deutschland benötigt in der Konsequenz eine Transformation vom bisher favorisierten familienbasierten Pflegesystem hin zu einem servicebasierten System: Weiter auf das „Töchterpflegepotenzial“ zu setzen würde das Scheitern programmieren.
Bis 2050 wird sich die Zahl der (potenziellen) Pflegepersonen um etwa 30 Prozent verringern, wie der AOK-Pflegereport 2019 und eine Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2019 feststellen. Nötig sind staatliche und kommunale Rahmenbedingungen, die bei auftretendem Pflegebedarf – je nach Lebenslage oder Lebensphase der Angehörigen – diesen die Wahl eröffnen, ihre Angehörigen selbst zu pflegen oder eben dies nicht zu tun.
>> Lesen Sie hier: Warum Deutschlands Gesundheitswesen nicht mehr ohne Zuwanderer auskommt
Vonnöten sind dafür die Aufwertung und deutlich bessere finanzielle Anerkennung häuslicher Pflege sowie der Ausbau eines öffentlich finanzierten Systems ambulanter und stationärer Einrichtungen.
Zudem werden Unternehmen nicht umhinkönnen, die Bedürfnisse von pflegenden Angehörigen im Rahmen einer lebensereignisorientierten Personalpolitik angemessen zu berücksichtigen.
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