Handelsblatt App
Jetzt 4 Wochen für 1 € Alle Inhalte in einer App
Anzeigen Öffnen
MenüZurück
Wird geladen.

01.02.2023

14:09

Globale Trends

Warum die Löhne stark sind, obwohl die Gewerkschaften schwächeln

Von: Thomas Hanke

Die Arbeitnehmerorganisationen verlieren Mitglieder – trotzdem steigen die Löhne. Dieser Trend aus den USA könnte bald schon Deutschland erreichen.

Handelsblatt-Autor Thomas Hanke Klawe Rzeczy

Globale Trends

Handelsblatt-Autor Thomas Hanke analysiert in der Kolumne interessante Daten und Trends aus aller Welt.

Zehneinhalb Prozent mehr Lohn fordern die Gewerkschaften Verdi und Beamtenbund in dieser Tarifrunde. Die Aufregung ist groß. Nur Ältere erinnern sich noch an einen Tarifabschluss, der sogar darüberlag: die sogenannte „Kluncker-Runde“ von 1974. Während der ersten Ölkrise setzte der bullige Chef des Verdi-Vorgängers ÖTV, Heinz Kluncker, ein Plus von elf Prozent durch.

Dabei waren die Auswirkungen der Krise noch nicht mal bei den Arbeitnehmern angekommen. Dem SPD-Mitglied Kluncker haben manche Politiker nachgesagt, er habe mit seinem Lohn-Schock zum Sturz der Regierung Willy Brandts beigetragen.

In der jüngsten Vergangenheit dagegen haben die Arbeitnehmer in allen westlichen Industriestaaten Reallohneinbußen erlitten, seit 2021. Die Inflation ist hoch, das Wachstum schwach. Lange wurde in den USA wie in Europa eine Rezession befürchtet. Die bleibt nun zwar aus, doch die Wirtschaftsleistung wird allenfalls gering zunehmen. Das ist kein gutes Umfeld für höhere Löhne.

Dennoch: Seit 2022 konnten vor allem in den USA die Einkommen von ungelernten und Facharbeitern den Negativtrend durchbrechen. Bereits im vergangenen Jahr erzielten die US-Arbeitnehmer dem „Wage Growth Tracker“ der Federal Reserve Bank of Atlanta zufolge ein hohes Plus von über sechs Prozent, was ungefähr der Inflationsrate entsprach. Wie die Daten zum gewerkschaftlichen Organisationsgrad und zu den durchschnittlichen Lohnerhöhungen 2022 zeigen, können sie in diesem Jahr sogar mit Nominallohnerhöhungen über der Inflationsrate rechnen.

Dazu passt zunächst einmal schlecht die Information, dass 2022 der Grad der gewerkschaftlichen Organisation von US-Arbeitnehmern einen historischen Tiefpunkt erreichte. Weniger als 10,1 Prozent wie aktuell waren nie „unionized“, seit es vergleichbare Aufzeichnungen gibt. Vor 40 Jahren lag der Wert genau doppelt so hoch. Sind die Gewerkschaften schwach, fällt es Arbeitgebern in der Regel leicht, höhere Löhne zu verhindern.

Derzeit scheint dieser Zusammenhang aber außer Kraft gesetzt zu sein. Dagegen wirkt ein anderer Faktor: „ein Mangel an Arbeitskräften von rund dreieinhalb Millionen Menschen“, wie Fed-Chef Jerome Powell kürzlich sagte. Das gehe vor allem auf mehr als zwei Millionen ältere Arbeitnehmer zurück, die unerwartet aus dem Arbeitsleben ausgeschieden seien. „Viele ältere Arbeiter verloren während der Pandemie ihren Job, als Entlassungen einen historisch hohen Wert erreichten.“

Und die seien nicht mehr zurückgekehrt. Die von den Unternehmen selbst verursachte Verknappung scheint nun eine ähnliche Wirkung auszulösen wie ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad: Die Arbeitnehmer können höhere Löhne durchsetzen.

In Deutschland mit seinen traditionell starken Gewerkschaften haben wir den Eindruck, Lichtjahre von der Situation in den USA entfernt zu sein. Die Statistik zeigt, dass das nicht mehr der Fall ist. Auch hier schwächeln die Arbeitnehmerorganisationen. Ein Anteil von 17 Prozent liegt weit unter dem, den man in Deutschland früher gewohnt war. Ähnlich wie in den USA hat sich der Anteil der Mitglieder an der Gesamtbeschäftigung nahezu halbiert.

Fachkräftemangel und mehr Frauenbeschäftigung beeinflussen den Organisationsgrad

Hinzu kommt, dass die Struktur der Mitgliedschaft nicht mit den Veränderungen am Arbeitsmarkt Schritt hält. Während heute mehr Frauen arbeiten als vor einigen Jahren, ist der Anteil weiblicher Gewerkschaftsmitglieder nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft gesunken.

Stark zugenommen hat dagegen der Organisationsgrad der Beamten, in wenigen Jahren ist er auf fast 39 Prozent hochgeschnellt. Der Anteil der Beamten an der Gesamtbeschäftigung ist aber leicht rückläufig.

Verdis Stärke im öffentlichen Dienst erklärt die hohe Lohnforderung. Im Rest der Wirtschaft wirkt dagegen wie in den USA ein anderer Zusammenhang: Es fehlen Arbeitskräfte. Die starke Zuwanderung, die in den USA seit Jahrzehnten das Wachstum stützt, erfährt Deutschland erst in jüngster Zeit. Ob sie anhält, ist völlig unsicher. Und wer sich in den unterbesetzten deutschen Grundschulen umsieht, der fragt sich, ob Deutschland die Herausforderung der Integration schon verstanden hat.

Direkt vom Startbildschirm zu Handelsblatt.com

Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.

Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.

×