Globale Trends
Handelsblatt-International-Correspondent Torsten Riecke analysiert jede Woche in seiner Kolumne interessante Daten und Trends aus aller Welt. Sie erreichen ihn unter [email protected].
Bild: Klawe Rzeczy
Deutschland, Europa und die USA ringen mit Schuldenobergrenzen. Was fehlt, sind positive Zukunftsziele der Finanzpolitik.
Was tun mit den Schulden? Egal, ob Olaf Scholz oder Armin Laschet nach den Wahlen vom Sonntag ins Kanzleramt einzieht, die Antwort auf diese Frage wird die Finanz- und Wirtschaftspolitik Deutschlands auf Jahre hinaus prägen. Spätestens 2023 muss die Antwort kommen, dann tritt die gesetzliche Schuldenbremse wieder in Kraft, die während der Pandemie ausgesetzt wurde, um Deutschland vor dem wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu retten.
Wir sind mit der Gewissensfrage durchaus nicht allein: Die EU muss ebenfalls bis 2023 entscheiden, ob sie den Stabilitätspakt des Maastricht-Vertrags reformieren oder die Defizit- und Schuldenregeln wieder einführen will, obwohl rund 60 Prozent der Europäer inzwischen in Ländern leben, deren Schuldenstand mehr als 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt.
Und in den USA ringt in dieser Woche der Kongress mit der Frage, ob er die staatliche Schuldengrenze erhöhen soll, damit die Regierung nicht zahlungsunfähig wird und Präsident Joe Biden seine Infrastruktur- und Sozialausgaben von insgesamt 4,5 Billionen Dollar unters Volk bringen kann.
Viele sagen, zumindest in Deutschland können wir uns eine neue Schuldendebatte sparen. Die nach der Finanzkrise 2009 eingeführte Schuldenbremse hat Verfassungsrang und lässt sich nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag ändern. Weder FDP noch Union sind dazu bereit und stützen sich dabei auf das hierzulande weitverbreitete Unwohlsein, auf Pump zu leben.
Andererseits haben alle großen Parteien in Deutschland mit Blick auf die Klimakrise und den enormen Finanzbedarf für die öffentliche Infrastruktur massive Investitionen in den kommenden Jahren versprochen. Selbst wenn ein Teil davon aus privaten Quellen mobilisiert werden kann, wird der Staat nicht gleichzeitig im Kampf gegen den Klimawandel und bei der Digitalisierung Gas geben und auf die Schuldenbremse treten können. Insbesondere dann nicht, wenn auch noch Steuersenkungen versprochen werden.
Auf beiden Seiten der Schuldendebatte geht es jedoch nicht nur um Finanzmathematik, sondern auch um zutiefst moralische Fragen. Die konservativen Anhänger einer sparsamen Haushaltspolitik wollen künftige Generationen nicht mit Schuldenbergen belasten. Die Befürworter einer Lockerung der Schuldenregeln halten dem entgegen, dass wir jetzt investieren müssen, wollen wir unseren Kindern kein marodes und von Klimakatastrophen gezeichnetes Land hinterlassen.
Zudem spricht einiges dafür, dass die Pandemie nicht die letzte Krise sein wird, der wir uns mit aller Kraft entgegenstemmen müssen. Neue Viren, Fluten, Dürren und andere Naturkatastrophen sowie geopolitische Konflikte und Migrationskrisen könnten zu unseren ständigen Begleitern werden. Gut möglich also, dass der permanente Ausnahmezustand und nicht die alte Normalität das „new normal“ ist, auf das wir uns gefasst machen müssen.
Auch deshalb hat sich das ökonomische Umfeld der Schuldendebatte verändert. Wer hätte gedacht, dass die Finanzmärkte Schuldenstände von weit über 100 Prozent des BIP in den USA und mehr als 70 Prozent in Deutschland achselzuckend zur Kenntnis nehmen und Bundesanleihen statt mit höheren Risikoaufschlägen mit negativen Zinsen bedacht werden?
„Whatever it takes“, das berühmte Versprechen des ehemaligen EZB-Chefs Mario Draghi im Kampf gegen die Euro-Krise, ist zum neuen Mantra des internationalen Krisenmanagements geworden. Und Märkte, die früher quasi als Peitsche für Haushaltsdisziplin sorgten, scheinen das zumindest für den Moment zu tolerieren. „Das größte Risiko ist nicht, zu viel Geld in die Hand zu nehmen – es ist, zu wenig Geld in die Hand zu nehmen“, sagt US-Präsident Joe Biden.
Sind Sparsamkeit, solide Haushaltsführung und Schuldenregeln deshalb Tugenden von gestern? Können wir künftig so viel Geld ausgeben, als gäbe es kein Morgen – oder zumindest kein böses Erwachen am Morgen danach? Keineswegs.
Schuldenregeln entstammen einem gesunden Misstrauen gegenüber den Schwächen der menschlichen Natur. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – mit diesem Leitsatz sind wir gerade in der Finanzpolitik gut gefahren. Auch zukünftig brauchen wir Stoppzeichen, wenn es ums Schuldenmachen geht. Sie dürfen jedoch nicht mehr unsere einzigen Wegweiser sein. Die Finanzpolitik braucht neben Ge- und Verboten auch positive Ziele, die über Schuldenobergrenzen hinausweisen.
Natürlich ist Bidens Mahnung politische Rhetorik. Darin steckt aber auch die Wahrheit, dass nicht nur das exzessive Schuldenmachen große Risiken beinhaltet, sondern dass man auch am falschen Ende sparen kann. Die Digitalwüste, der Bildungsnotstand, aber auch die zu langsame Klimawende in Staat und Wirtschaft sind Beispiele dafür. Genau deshalb hat Michael Hüther, immerhin Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), vorgeschlagen, produktive Investitionen von der Schuldenbremse auszuklammern.
Die bisherigen Fiskalregeln haben zudem den strukturellen Nachteil, dass sie stets nur in den Rückspiegel auf die Schuldenberge der Vergangenheit blicken. Der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers, der Bidens Ausgabenpolitik durchaus kritisch gegenübersteht, hat deshalb eine vorausschauende Zinsquote vorgeschlagen. Für Deutschland könnte ein Zinsindikator für den Anstieg der Finanzierungskosten im Haushalt eine Alternative zur Schuldenbremse sein.
Die Aufgabe der neuen Bundesregierung wird es sein, die Risiken von Schuldenbremse und Schuldenmachen neu auszubalancieren. Die künftige Finanzpolitik darf nicht nur bremsen, sie muss auch Gestaltungsspielräume schaffen.
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