Handelsblatt App
Jetzt 4 Wochen für 1 € Alle Inhalte in einer App
Anzeigen Öffnen
MenüZurück
Wird geladen.

15.07.2022

04:10

Der Chefökonom – Kommentar

Irrweg Dienstpflicht: Das Trendwachstum der Volkswirtschaft wird auch so zurückgehen

Von: Bert Rürup

Die deutsche Volkswirtschaft braucht motivierte Arbeitskräfte, keine Zwangsverpflichteten. Insbesondere die demografische Entwicklung spricht gegen eine Dienstpflicht.

Bundeswehr, Wehrdienst dpa

Wehrdienst

Die CDU will auf ihrem Bundesparteitag im September über die Einführung eines „Gesellschaftsjahrs“ abstimmen.

Wann immer im sozialen Bereich ein akuter Personalmangel offenkundig wird, schlagen Politikerinnen und Politiker zumeist aus dem konservativen Lager eine allgemeine Dienstpflicht als Königsweg aus dieser Misere vor.

Diese scheinbar kostengünstige mobile Eingreiftruppe könnte dann je nach Bedarf in überforderten Gesundheitsämtern aushelfen, im Ahrtal Flutschäden beseitigen, den Pflegenotstand lindern, Geflüchtete betreuen, dezimiertes Flughafenpersonal ersetzen und, und, und …

Die meisten Älteren können sich sicher noch gut an den eigenen Wehr- oder Zivildienst erinnern. Selbst wenn die Zeit so manches verklärt, würden sicher nicht wenige von ihnen diese bis zu 24-monatige Dienstpflicht heute als verlorene Zeit bezeichnen.

Zu Recht fiel daher zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die allgemeine Wehrpflicht und mit ihr der Zivildienst in Deutschland. Die Zeiten eines staatlich verordneten gesellschaftlichen Engagements – damals ausschließlich für junge Männer – sind hierzulande vorbei. Nur die Debatte darum lebt in unregelmäßigen Abständen immer wieder auf.

Dieses Jahr war es kein Vertreter des konservativen Lagers, der diesen Vorschlag aus dem Archiv der überkommenen Ideen holte, sondern Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der selbst einst Wehrdienstleistender war.

CDU will über Einführung eines „Gesellschaftsjahres“ abstimmen

Er stellte die rhetorische Frage, „ob es unserem Land nicht guttun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen“ – um sie unverzüglich mit einem „Ja“ zu einer sozialen Pflichtzeit bei Bundeswehr oder in Sozialeinrichtungen für junge Männer und Frauen zu beantworten.

Frank-Walter Steinmeier dpa

Frank-Walter Steinmeier

Der Politiker war einst Wehrdienstleistender.

„Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein“, meinte Steinmeier und fährt fort: „Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen. Das baut Vorurteile ab und stärkt den Gemeinsinn.“ Kurzum, er sei überzeugt, dass mit einer Pflichtzeit die Demokratie und der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden könne.

Die CDU will auf ihrem Bundesparteitag im September über die Einführung eines „Gesellschaftsjahrs“ abstimmen – wobei selbst die Parteispitze uneinig zu sein scheint, ob dieses freiwillig oder verpflichtend sein sollte. Deshalb wird der Antrag in zwei Varianten vorbereitet.

Zwangsverpflichtet in einer Schule der Nation – dahinter steckt ein autoritäres Gesellschaftsbild. Schließlich steht es jedem jungen Erwachsenen heute frei, ein freiwilliges soziales Jahr (FSJ) oder einen Bundesfreiwilligendienst (BFD) zu absolvieren oder sich bei der Bundeswehr zu verpflichten.

Im Jahr 2021 leisteten nach amtlichen Angaben 37.000 Frauen und Männer den Freiwilligendienst, 52.000 engagieren sich in einem BFD, und etwa 9000 sind freiwillige Wehrdienstleistende. Warum Teile der CDU nun erwägen, einen Rechtsanspruch auf solch einen Dienst einzuführen, ist nicht einsichtig.

Grafik

Eine klare Absage an solche Pläne kommt aus dem grün geführten Bundesfamilienministerium sowie von Justizminister Marco Buschmann (FDP): Junge Menschen gehörten „in Ausbildung, Studium oder Beruf, nicht in die Beschäftigungstherapie“.

Demografische Entwicklung spricht gegen Dienstpflicht

Jenseits gesellschaftlicher und juristischer Fragen gibt es sehr handfeste ökonomische Gründe, die gegen solch eine Dienstpflicht sprechen. Deutschland steht unmittelbar vor einem massiven Alterungsschub der Bevölkerung, der zwei Dekaden andauern wird.

Der Altenquotient, also die Relation der Personen im Alter von 67 und mehr Jahren im Vergleich zu den Personen im Alter von 20 bis unter 67 Jahren, wird markant steigen. Dieser Alterungsschub ist mit einem Rückgang des Trendwachstums verbunden und verlangt den dann erwerbstätigen Kohorten enorme Anstrengungen ab.

Eine sinkende Anzahl von Erwerbsfähigen muss eine wachsende Anzahl von Rentnern und Pensionären finanzieren, ganz gleich ob über höhere Steuern, Abgaben oder längere Lebensarbeitszeit. Diesen Stresstest für Wirtschaft, Sozialstaat und Gesellschaft gilt es zu bestehen.

Grafik

Um das Verhältnis der Personen im Erwerbsalter zu den Ruheständlern konstant zu halten, wäre laut dem scheidenden Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlev Scheele, eine Nettozuwanderung von etwa 400.000 Personen erforderlich, was einer jährlich in die Gesellschaft zu integrierenden Bruttozuwanderung von etwa 600.000 Personen entspricht, da rund 200.000 Menschen jährlich abwandern. Dies würde eine enorme Integrationsbereitschaft der aufnehmenden Wohnbevölkerung wie der Zuwanderer voraussetzen, die vorrangig aus nicht europäischen Ländern kommen dürften.

Müssten künftig etwa 700.000 junge Menschen ein verpflichtendes soziales Jahr absolvieren, so würden sie ein Jahr lang im Ausbildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt fehlen und ihr Erwerbsleben verkürzen, ihr Lebenseinkommen senken und damit ihren Beitrag verringern, den sie zur Finanzierung des Staates beitragen können.

Kurzum, der in der demografischen Entwicklung angelegte Druck auf unser lohnzentriertes Umlagesystem würde verstärkt, und Bemühungen, das tatsächliche Renteneintrittsalter zu erhöhen und die Schul-, Ausbildungs- und Studienzeiten zu verkürzen, würden konterkariert.

Der intergenerative Umverteilungsdruck zulasten der nachwachsenden Generationen stiege weiter an. Zudem würde das ohnehin durch die demografische Entwicklung gedämpfte Wirtschaftswachstum weiter abgeschwächt, da bislang zu Marktpreisen erbrachte Leistungen künftig von Zwangsverpflichteten erledigt würden.

Trendwachstum der Volkswirtschaft wird auch ohne Pflicht zurückgehen

Diesen Einbußen der dienstverpflichteten Jahrgänge stünde mutmaßlich eine bessere oder kostengünstigere Versorgung der Nutzer dieser Dienstleistungen gegenüber. Würde dieser Arbeitsdienst mit weniger als dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet, wäre das gut für die staatliche Kostenrechnung. Die volkswirtschaftliche Rechnung müsste aber die Opportunitätskosten mit einbeziehen: Was hätten die Verpflichteten sonst gemacht und wie hoch wäre ihr Einkommen sonst gewesen?

Handelsblatt: Prof. Bert Rürup

Der Autor

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.

Zum autoritären Gesellschaftsbild kommt hier eine gewisse Arroganz zum Ausdruck, die implizite Annahme, dass die Alternative in einer ökonomischen Schonhaltung bestanden hätte. Würde der Pflichtdienst aber den Einstieg in ein produktives Arbeitsleben verzögern, wäre dies eine höchst schädliche Form der Besteuerung.

Wenn die obligatorische Dienstzeit ernsthaft diskutiert werden soll, müssten gesamtwirtschaftliche Berechnungen auf den Tisch. Man stelle sich das – mutmaßlich – verschreckte Gesicht des Bundespräsidenten oder von CDU-Chef Friedrich Merz vor, wenn sie mit seriösen Analysen konfrontiert würden, wie stark ein solches Dienstjahr isoliert betrachtet künftig das Rentenniveau drücken würde, um wie viele Milliarden der Steuerzuschuss zur Rente angehoben werden müsste oder wie stark die Quote der armutsgefährdeten Menschen steigen würde.

Auch ohne den Irrweg einer neuen Dienstpflicht wird das Arbeitsangebot in Deutschland in den kommenden Jahren sinken und das Trendwachstum der Volkswirtschaft merklich zurückgehen. Folgt man aktuellen Simulationsrechnungen der Bundesbank zur gesetzlichen Rente, steht die deutsche Volkswirtschaft vor enormen Herausforderungen – selbst ohne Verzicht auf russisches Erdgas und ohne eine Dienstpflicht.

Allein aus demografischen Gründen wird ein reales Wachstum der Wirtschaft bald keine Selbstverständlichkeit mehr sein. Oberste Aufgabe der Wirtschaftspolitik sollte es daher sein, das Angebot von Kapital und vor allem von Arbeit zu stärken. Ein neues Pflichtjahr wäre sicher ein Schritt in die falsche Richtung.

Direkt vom Startbildschirm zu Handelsblatt.com

Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.

Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.

×