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08.07.2022

09:14

Der Chefökonom – Kommentar

Steuerfreie Einmalzahlungen: Von Olaf Scholz’ Vorschlag würden vor allem Gutverdiener profitieren

Von: Bert Rürup, Axel Schrinner

Ohne Reallohn- und Wohlstandsverluste wird die deutsche Gesellschaft diese Krise nicht überwinden können. Das sollte der Bundeskanzler auch so kommunizieren.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) IMAGO/photothek

Olaf Scholz

Der Bundeskanzler empfiehlt, anstatt reallohn- und statussichernder proportionaler Gehaltserhöhungen vorrangig Einmalzahlungen zu vereinbaren.

Das Finanzamt kennt im Regelfall keine Unterschiede. Einkommen werden im Prinzip gleich behandelt – unabhängig davon, wie mühsam oder auch mühelos sie erzielt wurden oder ob die bezahlte Leistung von manchen Politikern oder Medien als gesellschaftlich besonders nützlich oder weniger nützlich erachtet wird.

Der Fiskus summiert sämtliche Einkünfte zu einem steuerpflichtigen Einkommen auf und besteuert dies gemäß dem einheitlichen Steuertarif. Nur für Kapitaleinkünfte gilt seit 2009 aus Praktikabilitätsgründen eine Art Flatrate von 25 Prozent – ein Viertel für den Staat, drei Viertel für den Anleger. Wesentlicher Grund dafür war, dass die bisherige Verrechnung von Dividenden nicht EU-kompatibel war.

Jenseits der proportionalen Besteuerung von Kapitaleinkommen ist der Einkommensteuertarif progressiv, die durchschnittliche Belastung steigt mit zunehmendem steuerpflichtigem Einkommen.

Damit wird gewährleistet, dass „starke Schultern mehr als schwache tragen“. Nach Erhebungen des Bundesfinanzministeriums stammen von der einkommensmäßig unteren Hälfte der Steuerzahler lediglich sechs Prozent des Einkommensteueraufkommens, während die oberen zehn Prozent 56 Prozent und das oberste Prozent allein gar fast ein Viertel zu diesem Aufkommen beisteuert.

Weil die Einkommensteuer als gerecht und ergiebig angesehen wurde, gilt sie seit 100 Jahren unter Finanzwissenschaftlern als „Königin der Steuern“ oder, wie es Joseph Schumpeter formulierte, als „die beste Leistung und der Höhepunkt der Steuerkunst des liberalen Bürgertums“.

Die Einkommensteuer in Deutschland

Die theoretische Basis für die heutige „synthetische Einkommensteuer“, die alle Einkunftsarten gleich behandelt, lieferte Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Rechtswissenschaftler Georg von Schanz mit seiner Reinvermögenszugangstheorie.

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Kurze Zeit später setzte sich durch die Arbeiten der US-Ökonomen Robert M. Haig und Henry C. Simons diese Auffassung auch im angelsächsischen Sprachraum durch. Deren bewusst weit gefasste Definition versteht unter Einkommen alle laufenden Einnahmen, die während eines Jahres in die rechtliche Verfügungsgewalt eines Einkommensempfängers eingehen, also das Reinvermögen steigern und Konsum ohne Vermögenseinbußen ermöglichen.

Mit der Erzbergerschen Finanzreform von 1919/1920 wurde in Deutschland so etwas wie eine erste Fassung des heutigen Einkommensteuergesetzes verabschiedet. Vor 100 Jahren war der Tarif dieser Steuer stark progressiv; der Spitzensteuersatz betrug 60 Prozent.

Im Preußen des 19. Jahrhunderts gab es zwar bereits eine Besteuerung von Einkommen und Vermögen. Doch wurden die Verhältnisse geschätzt und die Steuerpflichtigen in einkommensabhängige Klassen eingeteilt, die jeweils den gleichen Steuerbetrag zu zahlen hatten. Zudem waren die Steuersätze sehr niedrig, entsprechend gering war die Ergiebigkeit dieser Steuer.

Seit Bestehen der Bundesrepublik ist das Einkommensteuerrecht stark von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beeinflusst, was – im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit – zu dessen Verkomplizierung beigetragen hat. Aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) leiteten die obersten Richter das Leistungsfähigkeitsprinzip der Besteuerung ab.

Danach ist nicht allein das am Markt erzielte Einkommen als Bemessungsgrundlage für die Besteuerung heranzuziehen. Vielmehr sind zunächst die mit der Einkunftserzielung verbundenen Aufwendungen, die Werbungskosten, abzuziehen.

Anschließend sind jene unvermeidbaren Ausgaben zu berücksichtigen, die die individuelle Leistungsfähigkeit schmälern, beispielsweise Unterhaltsverpflichtungen. Ziel bei dieser Ermittlung der persönlichen, subjektiven Leistungsfähigkeit ist es, steuerlich Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.

Scholz und die Begrenzung der Inflation

Womit wir bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seiner Idee zur Begrenzung der Inflation angekommen wären. Vor dem Treffen mit Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern vor Kurzem hatte Scholz den Tarifparteien empfohlen, in diesem Jahr anstatt reallohn- und statussichernder proportionaler Gehaltserhöhungen vorrangig Einmalzahlungen zu vereinbaren.

Handelsblatt: Prof. Bert Rürup

Der Autor

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.

So sollte einer Lohn-Preis-Spirale, die die ohnehin sehr hohe Inflation weiter befördern würde, vorgebeugt werden. Um solche Einmalzahlungen attraktiver zu gestalten, stellte der Bundeskanzler in Aussicht, diese von der Steuer und eventuell sogar von den Sozialabgaben freizustellen.

Anstatt der sonst üblichen Abzüge von nicht selten 50 und mehr Prozent kämen die Zahlungen ungekürzt bei den Beschäftigten an – auf den ersten Blick ein verlockender Vorschlag. Nach dem Treffen im Kanzleramt bezeichnete Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger dies wohlwollend als eine Möglichkeit, die die Politik habe, um die Folgen der Inflation für die Beschäftigten abzufedern und dafür zu sorgen, dass von Lohnerhöhungen mehr Netto vom Brutto verbleibe.

Damit würde freilich das bewährte und durchweg akzeptierte Leistungsfähigkeitsprinzip der Besteuerung ausgehöhlt. Ein in einem nicht tarifgebundenen Unternehmen Beschäftigter mit 45.000 Euro zu versteuerndem Einkommen müsste plötzlich höhere Steuern zahlen als eine Kollegin in einem tarifgebundenen Unternehmen, die 40.000 Euro zuzüglich 10.000 Euro Einmalzahlung erhält – und dies, obwohl sie eindeutig leistungsfähiger im Sinne des Einkommensteuergesetzes ist.

Klare Kommunikation der Bundesregierung

Überdies profitierten gerade jene Steuerpflichtigen am stärksten, die die höchsten Abzüge haben, also die Gutverdienenden. Hinzu kommt, dass für jeden abzugsfrei gezahlten Euro Lohn oder Gehalt den Sozialversicherungen rund 40 Cent und dem Fiskus etwa 25 Cent entgehen – Geld, das an anderer Stelle fehlen würde.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck IMAGO/Christian Spicker

Robert Habeck

„Wir werden ärmer werden“, sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen).

Zweifellos steht es den Tarifparteien frei, Einmalzahlungen in den laufenden Tarifrunden zu vereinbaren. Solche Regelungen jedoch durch Abgabenfreiheit zu subventionieren kostet den Staat sehr viel Geld, während sie jenen, die von den aktuellen Teuerungsschüben besonders hart getroffen sind, eher wenig nutzen, da sie allenfalls sehr wenig Steuern zahlen.

Zudem ist ein großer Teil der Beschäftigungsverhältnisse nicht tarifgebunden, in Ostdeutschland sogar mehr als die Hälfte. Diese Beschäftigten würden – sofern die Arbeitgeber dieses Agreement nicht freiwillig übernehmen – von solch einer Vereinbarung ebenso wenig profitieren wie die oft in prekären Verhältnissen lebenden Soloselbstständigen sowie die Rentner.

Angesichts der großen, nicht zuletzt auch finanziellen Herausforderungen, vor die die aktuelle Energiekrise den Staat stellt und noch stellen wird, sollte Zielgenauigkeit oberstes Gebot aller staatlichen Maßnahmen sein.

Es gilt, sicherzustellen, dass niemand im kommenden Winter in Deutschland hungern oder frieren muss, und überdies schwere Schäden von der Wirtschaft abzuwenden – nicht mehr und nicht weniger.

Eine Chance, die gesamte Gesellschaft vor der massiven Verteuerung von Energie und Lebensmitteln abzuschirmen, hat die Politik nicht. Denn wird mehr umverteilt als erwirtschaftet, führt dies zwangläufig zu einem Substanzverzehr von Ressourcen oder Realkapital und befördert die Inflation – die es gerade zu bremsen gilt. „Wir werden ärmer werden“, sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen). Da kann man nur beipflichten.

Solch klare und ehrliche Worte sollte man auch vom Bundeskanzler und nicht nur von seinem Stellvertreter erwarten. Oft können die richtigen Worte mehr als unausgegorene Taten helfen. Ohne Reallohn- und Wohlstandsverluste wird die deutsche Gesellschaft diese Krise nicht überwinden können.

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