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26.02.2021

11:42

Kommentar – Der Chefökonom

Die nächste Bundesregierung braucht eine finanzpolitische Kehrtwende

Von: Bert Rürup, Axel Schrinner

Minister Scholz will von Steuerentlastungen für die Wirtschaft nichts wissen. Die Finanzen müssen jedoch konsolidiert und der Standort muss für Investoren attraktiver werden.

Der Finanzminister hat bisher auf Steuerentlastungen für Unternehmen verzichtet. AFP

Olaf Scholz

Der Finanzminister hat bisher auf Steuerentlastungen für Unternehmen verzichtet.

Maßgebliches Entscheidungskriterium für Investitionen ist die erwartete Rendite, genauer die Nach-Steuer-Rendite. Während die USA und viele Staaten Europas in den vergangenen Jahren die Steuern für Unternehmen gesenkt haben, um die Realkapitalbildung zu stimulieren, datiert die letzte deutsche Unternehmensteuerreform aus dem Jahr 2008.

Damals regierte wie heute eine Große Koalition, und die SPD stellte mit Peer Steinbrück den Finanzminister. Doch anders als sein damaliger Vorgänger will der heutige Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz von Steuerentlastungen für die Wirtschaft nichts wissen.

Der Preis dieses nun schon 13 Jahre währenden Stillstands: Der Standort Deutschland hat an Attraktivität eingebüßt. Mit rund 30 Prozent Steuerbelastung auf Unternehmensebene ist Deutschland heute ein Hochsteuerland.

Dabei wäre eine Beseitigung dieses Standortnachteils über eine Reform der Unternehmensbesteuerung, konkret der Körperschaft- und Gewerbesteuer, mit überschaubaren fiskalischen Hürden verbunden. Der Anteil dieser beiden Steuern am Gesamtsteueraufkommen ist recht gering.

So steuerte im Vor-Corona-Jahr 2019 die Körperschaftsteuer vier und die Gewerbesteuer knapp sieben Prozent zum Gesamtaufkommen bei. Würde die Belastung mit beiden Steuern um je zehn Prozent reduziert, wäre das Steueraufkommen allenfalls um rund ein Prozent geringer – eine zu bewältigende Größenordnung.

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Doch bekanntlich setzten die beiden Großen Koalitionen in den zurückliegenden acht Jahren andere Prioritäten: Die Früchte des Aufschwungs wurden vorrangig in Form von Sozialleistungen an die vermutete eigene Klientel verteilt; Wachstumspolitik blieb hingegen ein Fremdwort. So wurden höhere Leistungen von Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung beschlossen. Dabei nahm man billigend in Kauf, dass diese dauerhaft nur durch stetig steigende Steuerzuschüsse finanziert werden können, wenn markante Beitragssatzanhebungen vermieden werden sollen.

So werden beispielsweise – anders als nach der Rezession 2009 – die durch die Lohnentwicklung infolge der Corona-Rezession vorgezeichneten Rentenkürzungen nicht durch spätere Minderanhebungen nachgeholt. Dadurch erhöht sich das Rentenniveau dauerhaft um etwa einen Prozentpunkt. Infolgedessen schmilzt die Rücklage zügig ab, und schon für 2023 und 2024 drohen zwei deutliche Beitragssprünge von derzeit 18,6 Prozent auf dann 19,9 Prozent. Und der eigentliche Alterungsschub kommt erst in den Jahren danach.

Die Krankenkassen schrieben im abgelaufenen Jahr das höchste Defizit seit 2003. Grund sind die insgesamt 13 Reformgesetze, die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) angeschoben wurden, wie der bessere Terminservice für gesetzlich Versicherte oder die Pflegepersonalstärkung. In der Summe belaufen sich die Kosten nach Berechnungen der Krankenkassen allein für die Jahre 2019 bis 2022 auf rund 33 Milliarden Euro – wobei die Corona-Folgen noch nicht berücksichtigt sind. Auch hier lauten die Auswege Beitragssteigerungen oder Bundeszuschüsse.

Die Pflegeversicherung wurde 1995 als „Teilkaskoversicherung“ mit je nach Pflegestufe gedeckelten Höchstleistungen eingeführt. Gesundheitsminister Spahn strebt nun an, diese Versicherung in eine Vollkaskoversicherung mit Selbstbeteiligung umzubauen. Der Eigenanteil an den Pflegekosten soll auf 700 Euro monatlich für maximal drei Jahre begrenzt bleiben. Absehbar steigende Pflegekosten etwa durch die höheren Löhne für Pflegekräfte gingen damit voll zulasten der Beitrags- und der Steuerzahler. Nutznießer wären in erster Linie die Hinterbliebenen, deren Erbe geschont würde.

Pro Jahr fehlen etwa 30 Milliarden Euro

Verschärft werden diese absehbaren Finanzierungsprobleme nun dadurch, dass infolge der Pandemie die Wirtschaftsleistung Deutschlands auf Dauer um rund 130 Milliarden Euro geringer sein wird als vor dem Corona-Ausbruch geschätzt. Bei einer Steuerquote von 23 Prozent fehlen jedes Jahr etwa 30 Milliarden Euro Steuern.

Hinzu kommen Beitragsausfälle in ähnlicher Größenordnung. Die ungedeckten Schecks sind also weit größer als zunächst gedacht, und sie werden noch größer, wenn in wenigen Jahren das Potenzialwachstum als Folge des Alterungsschubs der Gesellschaft in Richtung null sinken dürfte.

Handelsblatt: Prof. Bert Rürup

Der Autor

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.

Es ist zu bezweifeln, dass die nächste Regierung – auch wegen der alternden Bevölkerung – den Mut aufbringen wird, diese Leistungsausweitungen zurückzunehmen. Kräftige Beitragserhöhungen scheiden aus, da diese die Arbeitskosten in die Höhe treiben und Stellenabbau verursachen würden. Somit besteht die Gefahr, dass eine der Sache nach gebotene Unternehmensteuerreform in der kommenden Legislatur an Geldmangel scheitert oder im Koalitionsvertrag auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wird. Das wäre ein gravierender Fehler.

Die ehrliche, wenn auch unpopuläre Antwort auf die Frage der Gegenfinanzierung einer wachstumsstimulierenden Unternehmensteuerreform kann nur lauten: Anhebung des Regelsatzes der Umsatzsteuer. Regelmäßig werden verteilungspolitische Gründe angeführt, die gegen eine höhere Umsatzsteuer sprechen.

Schließlich steigt die Sparquote mit dem Einkommen, und Ersparnisse unterliegen nicht der Umsatzsteuer. Somit würde die durchschnittliche Steuerbelastung mit zunehmendem Einkommen sinken. Da jedoch Mieten umsatzsteuerfrei sind und für viele Alltagsgüter der reduzierte Satz gilt, wirkt diese Steuer tatsächlich aber weniger regressiv als vielfach vermutet.

Deutschland ist bei Umsatzsteuer Niedrigsteuerland

Zudem gibt es eine Reihe von Argumenten, die es nahelegen, das Steuersystem konsumorientierter zu gestalten, also die Einkommensverwendung stärker zu belasten. Schließlich kann man sich einer Besteuerung des Konsums legal nur entziehen, indem man spart. Sparen ist jedoch kein Selbstzweck.

Vielmehr wird auf heutigen Konsum verzichtet, um später mehr konsumieren zu können oder um Geld zu vererben. Eine (zu) hohe Belastung der Einkommensentstehung verringert hingegen das Angebot von Arbeit und Kapital und schwächt damit das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft. Aus dem gleichen Grund finanzieren sich Steuerentlastungen teilweise über höheres Wachstum selbst.

Anders als bei Unternehmensbesteuerung ist Deutschland bei der Umsatzsteuer ein Niedrigsteuerland. Lediglich Luxemburg und Malta haben einen geringeren Regelsteuersatz; in Zypern und Rumänien beträgt die Steuer wie hierzulande 19 Prozent. Die übrigen 22 EU-Staaten erheben teils deutlich höhere Sätze.

Somit besteht für die nächste Regierung Spielraum, den regulären Umsatzsteuersatz um ein oder zwei Punkte zu erhöhen, was zu jährlichen Mehreinnahmen von elf beziehungsweise 22 Milliarden Euro führen würde. Der Preis wäre wohl eine kurzfristige Dämpfung des Verbrauchs.

Allerdings weiß man aus dem Jahr 2007, als diese Steuer zum letzten Mal – und zwar kräftig um drei Punkte – angehoben wurde, dass nur ein kleiner Teil der Anbieter seine Preise stichtaggenau voll der Steuererhöhung anpasste. Vielmehr dauerte es laut Bundesbank mehr als ein Jahr, bis die Steuer „weitgehend“ auf die Preise überwälzt worden war.

Ein echtes Konsumloch ist daher nicht zu erwarten. Wohl aber kam es zu Vorzieheffekten beim Kauf langlebiger Konsumgüter, die den Konsum im Jahr 2006 stimulierten.

Mit einer Kombination aus gesenkter Körperschaftsteuer und höherer Umsatzsteuer würde der Standort Deutschland für Kapital attraktiver. Würden darüber hinaus noch die Abschreibungsbedingungen verbessert, könnte dies zu einer Initialzündung für mehr private Investitionen werden.

Die Chancen, die Wohlstandsverluste infolge der Pandemie aufzuholen, stiegen deutlich. Vier weitere Jahre Stillstand in der Unternehmensbesteuerung kann und sollte sich Deutschland nicht leisten.

Mehr: Es ist Zeit, den Sachverständigenrat zu reformieren, meint Bert Rürup.

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