Der Weg für das Bürgergeld ist frei. Die Hartz-IV-Nachfolgeregelung dreht sich nicht nur um Hilfe für Bedürftige, sondern auch um eine andere Gruppe.
Die Hartz-IV-Gesetze und ihr am vergangenen Mittwochabend im Vermittlungsausschuss verabschiedeter Nachfolger, das Bürgergeld, sollen den Ärmsten der Armen in Deutschland helfen. Doch tatsächlich bedienen beide Gesetze ebenso zentral zwei Urängste der Mittelschicht.
Beide Sorgen sind nicht wirklich begründet, entsprechende Fälle selten. Das zeigt die Statistik, und das zeigen auch die Erfahrungen von Praktikern vor Ort. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ berichtet die Leiterin des Frankfurter Jobcenter von „zwischen einen und drei Prozent“ der Hartz-IV-Empfänger, gegen die Sanktionen verhängt werden – meist weil sie Termine versäumt hätten. Fälle mit eigenen Vermögen kämen nur vereinzelt vor: „Der Großteil unserer Klientel hat so viel Geld gar nicht auf dem Konto.“
Wer es geschafft hat, sich ein relevantes Vermögen für die eigene Altersvorsorge aufzubauen, der verfügt in der Regel auch über genug soziales Kapital, um nicht in Hartz IV oder Bürgergeld zu landen. Die meisten Menschen, die über mehrere Jahre zur Kundschaft des Jobcenters zählen, kämpfen mit den immergleichen Problemen: kein Berufsabschluss, schlechte Deutschkenntnisse, psychische Krankheiten, Drogenprobleme. Wenn man diesen Menschen einfach nur Druck machen müsste, damit sie spuren, wäre der Job im Jobcenter einfach.
Durch eine technokratische Brille betrachtet könnte man sagen: Die ganze Debatte um Schonvermögen und Vertrauenszeit beruht auf irrationalen Ängsten der Mittelschicht. Dann wäre der Bürgergeld-Kompromiss, den Union und Ampel am Dienstag im Vorfeld des Vermittlungsausschusses geschlossen haben, schlechter als das Original.
Schließlich hat es die Union geschafft, das „Fordern“ gegenüber dem „Fördern“ stärker zu betonen, etwa indem die geplante sanktionsfreie „Vertrauenszeit“ in den ersten sechs Monaten des Bürgergeldbezugs entfällt. Doch tatsächlich wird das Bürgergeld durch diese Kompromisse stärker, weil es die Abstiegs- und Ausnutzungsängste der Mittelschicht mitdenkt.
So soll zum Beispiel das Schonvermögen stärker und schneller angegriffen werden als ursprünglich geplant, die Altersvorsorge etwa von Selbstständigen bleibt jedoch unangetastet. In der nun vorliegenden Form hat das Bürgergeld gute Chancen, von breiten Teilen der Gesellschaft als fair akzeptiert zu werden. Auch weil die Union als stärkste Oppositionskraft die Kompromissregelung nun mittragen muss, ja die Änderungen sogar als ihren Sieg verkauft.
Das Wichtigste aber: Die leistungsfeindlichen Zuverdienstregeln aus dem Hartz-IV-System werden für erwachsene Leitungsempfänger zumindest etwas gelockert. Und Minderjährige, die in Bürgergeld-Haushalten aufwachsen, dürfen nun mehr Geld aus Ferienjob oder Ausbildungsvergütung behalten und bekommen nicht mehr von Jugend an suggeriert: Arbeiten lohnt sich eh nicht.
Ein Grundproblem kann das Bürgergeld nicht beheben: Geringverdiener, die Vollzeit arbeiten und mit ihrem Einkommen Partner oder Kinder unterstützen, rutschen mit ihrem Nettoverdienst weiterhin viel zu schnell unter die Bürgergeld-Grenze und werden so zu Sozialfällen. Doch daran etwas zu ändern, ist der Stoff für ein anderes Gesetz.
Erstpublikation am 24.11.22, um 04:00 Uhr.
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