Künstliche Intelligenz löst eine Technologie-Revolution aus, von der auch Europa profitieren könnte. Nun droht ein Gesetz all das zu verhindern.
Der Autor
Sebastian Matthes ist Chefredakteur des Handelsblatts.
Wenn es um neue Technologien geht, dann sind „Disruptionen“ und „Revolutionen“ meist nicht weit. Diese Begriffe sollten eigentlich Jahrhundertereignisse beschreiben. Doch nun werden sie von Marketingabteilungen und Tech-Apologeten so oft genutzt, dass wir Gefahr laufen, vor lauter Werbegeplapper die echten Umbrüche zu übersehen.
So einen Umbruch erleben wir gerade. Und im Mittelpunkt dieser Revolution steht Künstliche Intelligenz. Die kann plötzlich Dinge tun, die bislang nur Menschen konnten: Texte formulieren, Bilder malen, Röntgenaufnahmen analysieren, Rechtsfragen erörtern und sogar Sinfonien komponieren.
Selten zuvor hat sich eine Technologie so schnell weiterentwickelt. Und noch nie in der Geschichte ist ein Angebot im Internet so schnell gewachsen wie der Bot namens ChatGPT, der nach zwei Monaten bereits 100 Millionen Nutzer hatte.
Die dahinter liegende Technologie ist nichts weniger als die Infrastruktur der künftigen digitalen Welt. Die Algorithmen werden zur Grundlage für eine völlig neue Generation von Internetdiensten und Geschäftsmodellen. Die Entwicklung sei so wichtig wie einst die Erfindung des Internets, sagte Bill Gates neulich im Handelsblatt.
Wichtiger noch ist, dass die Revolution, die wir gerade erleben, die Machtverhältnisse in der Technologiewelt durcheinanderbringt. So fordert das US-Start-up OpenAI mit seinem Programm ChatGPT auf einmal Google heraus, weil Menschen mit dem Programm viel natürlicher kommunizieren können als mit Googles Suchmaske.
Weltweit ist nun ein Wettstreit um diese Macht entbrannt. In den USA fließen Milliarden in junge Firmen, und in China – wo KI schon 2015 zur wichtigsten Zukunftstechnologie erklärt wurde – arbeiten sogar Provinzregierungen an sprechenden Maschinen. In Europa dagegen entsteht statt einer Revolution erst einmal ein neues Gesetz.
>> Lesen Sie hier: ChatGPT-Macher OpenAI stellt verbesserte Version GPT-4 vor
Während anderswo massenhaft junge KI-Unternehmen an neuen Ideen arbeiten, diskutiert die EU über den sogenannten AI Act, der im Sommer 2024 in Kraft treten wird. Dieses Gesetz gefährdet nicht nur das gesamte KI-Ökosystem – es verschiebt die Macht in der Technologiewelt weiter in Richtung der internationalen Tech-Konzerne. Denn Brüssel diskutiert ein Regelwerk, das versucht, alle auch nur erdenklichen Risiken zu vermeiden.
Es soll alle denkbaren Einsatzfelder von KI gleichzeitig ordnen. Dadurch entsteht ein bürokratisches Ungetüm, das junge Unternehmen zu teils irren Dokumentationen verpflichten will. Und damit nun auch wirklich keine Zeile Code ungeprüft bleibt, werden manche Felder künftig sogar doppelt reguliert.
Im Gesundheitssektor zum Beispiel: einmal nämlich über den neuen AI Act und gleichzeitig wieder über die Regeln, die es für digitale Gesundheitsdienste ohnehin schon gibt. Sie haben den Überblick verloren? Da sind Sie nicht allein. Was hier entsteht, ist vor allem ein Konjunkturprogramm für Beratungen und Juristen.
Kein Wunder, dass erste Start-ups planen, ihre KI-Entwicklung aus Europa abzuziehen, wie eine Umfrage der Initiative AppliedAI ergab, und das ist ausnahmsweise mal kein Lobbygeschrei. Es ist der Hilferuf einer Branche, die in Europa um ihre Existenz fürchtet. Denn wegen der unübersichtlichen Regel-Lage werden Investoren bei europäischen KI-Firmen bereits vorsichtiger.
Nur zur Erinnerung: Microsoft steckt mehr als zehn Milliarden Dollar in den KI-Superstar OpenAI in den USA. Das ist der Wettbewerb, mit dem es die europäischen Start-ups zu tun haben.
Natürlich brauchen neue Technologien Regeln. Vor allem, wenn sie über Leben und Tod von Menschen entscheiden. Doch das eine Supergesetz ist eben keine gute Idee, wenn es um so grundlegend unterschiedliche Dinge geht wie digitale Medizin‧dienste, autonome Mobilität und Sicherheitstechnologien.
OpenAI-Chef Sam Altman (l.) und Microsoft-CEO Satya Nadella
Der Konzern setzt auf die KI-Karte.
Bild: IAN C. BATES/The New York Times//Redux/laif
Wichtiger als neue Regeln wäre eine Antwort auf die Frage, wie in Europa global relevante KI-Firmen entstehen können. Die brauchen massenhaft Rechenleistung, Fachkräfte, Netzwerke zu anderen Unternehmen – und viel Geld. Bei alledem könnte die EU helfen. Wer in der Welt eher Chancen sieht, baut Brücken. Wer aber vor allem Risiken sieht, errichtet Mauern. Die EU hat sich für den Mauerbau entschieden.
Was bei solchen Regelwerken schieflaufen kann, lässt sich übrigens bei der Datenschutz-Grundverordnung beobachten, dem sperrigen EU-Gesetz, das Privatheit im digitalen Leben sichern sollte. Tatsächlich aber treibt es vor allem kleinere Unternehmen mit enormem bürokratischem Klein-Klein in den Wahnsinn.
Konzerne wie Google und Facebook haben damit keine Probleme: Sie beschäftigen ganze Abteilungen, die sich um all das kümmern. Für Mittelständler und Start-ups bleibt ein riesiger Wettbewerbsnachteil. Das Gesetz, das die Daten der Bürger schützen sollte, hat also die eher kleinteilige europäische Digitalwirtschaft geschwächt, während die großen US-Tech-Konzerne stärker geworden sind.
Diese Geschichte droht sich mit dem AI Act zu wiederholen. Dabei kommen all die neuen Dienste ohnehin nach Europa, ganz gleich, wie die Regulierung aussieht. Die Frage ist eben nur, ob wenigstens einige davon auch hier entwickelt wurden. Noch haben wir eine faire Chance, aber nicht mehr lange.
Erstpublikation: 17.03.2023, 11:11 Uhr.
Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.
Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.
×
Kommentare (1)