Die Sowjets haben ihn vor vollendete Tatsachen gestellt, die Amerikaner – trotz mutmaßlicher Hinweise aus Moskau – nicht informiert. „Ohnmächtiger Zorn“, so erinnert sich Brandt, sei in ihm aufgestiegen. Aber was tut er? Der Mann zügelt seine Ohnmachtsgefühle und beweist nun seine hohe Befähigung zum Realpolitiker, die ihm Jahre später die Kanzlerschaft und schließlich den Friedensnobelpreis einbringen wird.
Beraten von Egon Bahr akzeptiert er die neue Lage, wissend, dass keine Empörung der Welt die Berliner Mauer so schnell wieder zum Einsturz bringen wird. Er befiehlt sogar der West-Berliner Polizei mit Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen Demonstranten an der Mauer vorzugehen, um nicht von der Katastrophe der Teilung in die weit größere Katastrophe des Krieges zu schlittern. Er strebte ein Paradoxon an, das Bahr später so formulierte: „Wir anerkannten den Status Quo, um ihn zu verändern.“
Es ist nicht zu spät für das Duo Merkel/Steinmeier sich am konzeptionellen Ideenschatz jener Zeit zu bedienen. Es ist nicht sinnvoll, weiter hinter dem strategisch kurzatmigen Obama herzulaufen. Man sieht doch, wie er und Putin geradezu schlafwandlerisch auf ein Schild zusteuern, auf dem steht: Kein Ausweg.
„Der Test für die Politik ist nicht, wie etwas beginnt, sondern wie es endet“, sagt Henry Kissinger, auch er ein Friedensnobelpreisträger. Wir sollten Versöhnung wollen, nicht Dominanz, meint er nach dem Einmarsch der Russen auf der Krim. Die Dämonisierung Putins sei keine Politik, sondern Alibi für das Fehlen einer solchen. Er rät dazu, Konflikte zu kondensieren, also sie zu verkleinern, einzudampfen, um dann das Konzentrat einer Lösung zuzuführen.
Amerika macht derzeit – und seit längerem schon – das Gegenteil. Alle Konflikte werden hochgekocht. Aus dem Angriff der Terrorgruppe namens Al Qaida wird ein globaler Feldzug gegen den Islam. Unter fadenscheinigen Gründen bombardiert man den Irak, bevor die US-Luftwaffe in Richtung Afghanistan und Pakistan weiterfliegt. Das Verhältnis zur islamischen Welt darf als zerrüttet gelten.
Hätte der Westen die damalige US-Regierung, die ohne Beschluss der UN und ohne Beweise für das Vorhandensein von „Massenvernichtungswaffen“ im Irak einmarschierte, nach den gleichen Wertmaßstäben beurteilt wie heute Putin, wäre George W. Bush unverzüglich mit Einreiseverbot in die EU belegt worden. Die Auslandsinvestments von Warren Buffett hätte man einfrieren, den Export von Fahrzeugen der Marken GM, Ford und Chrysler untersagen müssen.
Die amerikanische Neigung zur verbalen und dann auch militärischen Eskalation, das Ausgrenzen, Angiften und Angreifen, hat sich nicht bewährt. Die letzte erfolgreiche militärische Großaktion, die Amerika durchgeführt hat, war die Landung in der Normandie. Alles andere – Korea, Vietnam, Irak und Afghanistan – ging gründlich daneben. Jetzt wieder Nato-Einheiten an die polnische Grenze zu verlegen und über eine Bewaffnung der Ukraine nachzudenken ist eine Fortsetzung der diplomatischen Ideenlosigkeit mit militärischen Mitteln.
Diese Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Politik – und zwar immer an der Stelle, wo die Wand am dicksten ist – bringt Kopfschmerzen und sonst nicht viel. Dabei gibt es im Verhältnis Europas zu Russland in der Wand eine große Tür. Und der Schlüssel zu dieser Tür heißt Interessenausgleich.
Russland ist bekanntermaßen eine Energieweltmacht und zugleich ein industrielles Entwicklungsland. Hier müsste eine Politik des Ausgleichs und der gegenseitigen Interessen ansetzen. Aufbauhilfe gegen Gebietsgarantien; Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte dafür schon das richtige Wort parat: Modernisierungspartnerschaft. Er muss es nur wieder entstauben und als Sehnsuchtsvokabel einsetzen. Russland gehört integriert und nicht isoliert. Kleine Schritte dorthin sind besser als der große Unsinn einer Politik der Aussperrung.
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Kommentare (113)
Account gelöscht!
08.08.2014, 14:04 Uhr
"Europa fehlt mit seiner Politik der Eskalation nämlich genau das, ein realistisches Ziel"
Da bin ich anderer Meinung. Es kann überhaupt kein Argument sein, denn wir würden ja schließlich auch einen untherapierbaren Mörder ins Gefängnis schicken, obwohl wir uns wegen seiner Resozialbarkeit keine Illusionen machen. Wir stecken ihn in den Knast um abzuschrecken und die Gesellschaft vor weiteren Straftaten durch den selben Täter zu schützen. In Analogie gilt folfendes: Als Europäer müssen wir verhindern, dass Putins - oder ein anderer - das noch einmal macht. Wir wollen schließlich selbst auch keine Opfer werden.
Was wir aber auf keinen Fall machen dürfen, ist solche Putins auch noch mit Waffen zu versorgen oder ihm das Gefühl zu geben, unehtisches Verhalten wäre 2014 genauso ok wi 1914. Wir sind hier tatsächlich weiter.
Account gelöscht!
08.08.2014, 14:05 Uhr
Danke!
Account gelöscht!
08.08.2014, 14:12 Uhr
Wird mal wieder Zeit für einen Krieg.
70 Jahre Frieden sind eine zu lange Zeit.
Der Druck muss entweichen. Das ist nur natürlich.