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27.06.2022

18:13

Atomkraftwerke

Frankreich bangt um den Strom aus seinen Atomreaktoren – und verschärft so die Energiekrise in Europa

Von: Gregor Waschinski

Fast die Hälfte aller AKWs ist abgeschaltet. Der traditionelle Stromexporteur Frankreich muss Elektrizität importieren. Und der Sommer könnte die Lage weiter verschlechtern.

Das Atomkraftwerk nahe der deutschen Grenze ist für seine Fehleranfälligkeit bekannt. dpa

Kernkraftwerk Cattenom

Das Atomkraftwerk nahe der deutschen Grenze ist für seine Fehleranfälligkeit bekannt.

Paris Nicht lange ist es her, dass die Atomnation Frankreich beinahe mitleidig auf die deutsche Abhängigkeit von Gasimporten blickte. Ausgerechnet zum Zeitpunkt hoher Preise und gedrosselter Lieferungen aus Russland sind aber auch die Franzosen so stark auf Gas angewiesen wie lange nicht mehr. Die elf Gaskraftwerke des Landes laufen am Anschlag.

Der Grund: Frankreich hat ein Problem mit seinen Atommeilern, die als Garant der energiepolitischen Souveränität gelten und in normalen Zeiten rund 70 Prozent der Stromversorgung abdecken. Nun steht seit Monaten etwa die Hälfte der 56 Reaktoren still – und ein heißer, trockener Sommer droht die Lage noch zu verschärfen.

Energieversorgung: Schäden bei Atomkraftwerken in Frankreich

Zwölf Reaktoren nahm der staatlich kontrollierte Energiekonzern EDF nach eigenen Angaben vorübergehend vom Netz, um die Rohrleitungen des Notkühlsystems auf kleinste Risse zu überprüfen. Der Konzern hatte die Vorsichtsmaßnahme ergriffen, nachdem im Dezember bei älteren Anlagen Hinweise auf Korrosionsschäden entdeckt worden waren.

Neben den unvorhergesehenen Abschaltungen stehen gegenwärtig auch mehr Reaktoren als üblich wegen routinemäßiger Wartungen still. Während der Lockdown-Phasen in der Pandemie waren geplante Instandsetzungsarbeiten verschoben worden, nun überschneiden sie sich mit den Korrosionsproblemen.

In den Sommermonaten besteht das Risiko, dass Atomreaktoren vorübergehend vom Netz gehen müssen, wenn nicht genügend Kühlwasser aus Flüssen und Seen zur Verfügung steht. Das Pariser Umweltministerium hält es für „sehr wahrscheinlich“, dass rund ein Viertel der französischen Départements in diesem Sommer mit extremer Trockenheit zu kämpfen haben werden. Zugleich steigt der Strombedarf an, wenn die Franzosen wegen der Hitze ihre Klimaanlagen aufdrehen.

Folgen für ganz Europa

Noch zeigt sich der Energiekonzern EDF gelassen. „Gegenwärtig hält es EDF nicht für notwendig, sich auf weitere Ausfälle von Reaktoren einzustellen“, teilte der Konzern auf Nachfrage mit. Der französische Netzbetreiber RTE machte aber deutlich, dass Frankreich den Strombedarf derzeit nur mit Importen decken könne – dabei ist die Nation eigentlich einer der größten Stromexporteure Europas.

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Die Nuklearflaute hat somit Folgen über Frankreich hinaus. Die auf Energiethemen spezialisierte Beratungsfirma Omnegy weist darauf hin, dass französische Atomstromexporte eine „zentrale Rolle für das Gleichgewicht“ der Netze und des Strommarktes in Europa spielten. Außerdem heißt es in der Analyse der Berater aus Paris: „Neben den hohen Preisen für Gas und Kohle auf dem Kontinent trägt die geringe Verfügbarkeit von französischer Atomenergie dazu bei, dass die Inflation noch stärker ansteigt.“

Frankreich musste Windenergie aus Deutschland einkaufen

Laut RTE gab noch im vergangenen Jahr kein anderes Land mehr Elektrizität an seine Nachbarn ab als Frankreich. Im November drehte die Außenhandelsbilanz beim Strom dann ins Negative. Auch zwischen Januar und April musste Frankreich unterm Strich rund zwei Terawattstunden Strom aus dem Ausland einkaufen, vor allem Windenergie aus Deutschland. Im gleichen Zeitraum im Vorjahr wurden noch fast zehn Terawattstunden exportiert.

Auch auf den nächsten Winter blicken Experten mit Sorge. Viele Franzosen heizen mit Elektrizität, in den kalten Monaten musste das Land in der Vergangenheit wiederholt vorübergehend Strom importieren. „Diesen Winter könnte es noch komplizierter werden“, heißt es in der Omnegy-Analyse.

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Der Chef der französischen Regulierungsbehörde für den Energiemarkt (CRE), Jean-François Carenco, sagte der Zeitung „Les Échos“: „Wir müssen in Frankreich ab sofort mit Gas und Strom haushalten, sonst könnte der nächste Winter schlimm verlaufen.“

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Entspannung ist nicht in Sicht: EDF rechnet für 2022 nur mit 295 bis 315 Terawattstunden aus heimischen Atomkraftwerken, verglichen mit 360 Terawattstunden im vergangenen Jahr. Die Berater von Omnegy erwarten, dass die Produktion von Atomstrom in Frankreich auf das niedrigste Niveau seit drei Jahrzehnten sinken dürfte.

Frankreich will Laufzeit von Atomkraftwerken verlängern

Der Investitionsbedarf in die französischen Atomkraftwerke ist groß, die Signale aus der Politik waren in den vergangenen zehn Jahren aber widersprüchlich. Unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande wurde das Ziel ausgegeben, die Atomkraft zurückzufahren und bis 2025 eine Reihe von Meilern zu schließen. Nachfolger Emmanuel Macron führte diese Linie zunächst weiter.

Dann verschob Macron die Frist auf 2035 – ein erstes Zeichen für seinen Sinneswandel. Im Februar dieses Jahres verkündete er dann, dass ab 2028 sechs Druckwasserreaktoren der nächsten Generation entstehen sollen. Die Kosten werden auf mehr als 50 Milliarden Euro geschätzt. Darüber hinaus soll EDF den Bau von acht weiteren Atomreaktoren prüfen.

Der französische Präsident setzt für die Klimawende auf die Atomkraft. Reuters

Emmanuel Macron besucht das Kernkraft-Unternehmen Framatome

Der französische Präsident setzt für die Klimawende auf die Atomkraft.

Die Laufzeit der bestehenden Kraftwerke soll wo immer möglich von 40 auf 50 Jahre verlängert werden – und dafür sind weitere Instandhaltungsmaßnahmen nötig, um die Sicherheit der alten Meiler zu garantieren. In Frankreich dürfte Atomstrom so auf absehbare Zeit knapp bleiben.

Frankreich: Neue Offshore-Windparks sollen Lage verbessern

Der Netzbetreiber RTE schreibt in einer Prognose, dass insbesondere wegen der „verringerten Verfügbarkeit des Nuklearparks“ bis 2024 „besondere Wachsamkeit“ geboten sei. Bis 2026 werde sich die Lage dann schrittweise verbessern, dank neuer Offshore-Windparks und der Rückkehr der Produktionskapazitäten beim Atomstrom.

Außerdem soll dann der Europäische Druckwasserreaktor (EPR) in Flamanville endlich am Netz sein. Das einstige Prestigeprojekt der französischen Atomindustrie liegt schon zehn Jahre hinter dem Zeitplan.

Erstpublikation: 21.06.22, 13:44 Uhr.

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