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24.12.2021

09:00

Absteiger des Jahres

Sebastian Kurz: Ein gescheitertes Ausnahmetalent

Von: Gabriel Felbermayr

Sein politisches Wirken war von Skandalen überschattet. Doch selbst die Gegner des ehemaligen Bundeskanzlers von Österreich können kaum leugnen, dass er durchaus auch erfolgreich war.

Absteiger des Jahres: Sebastian Kurz, gescheitertes Ausnahmetalent

Sebastian Kurz

Der 35-Jährige hat sich aus der Politik zurückgezogen.

Selbst Sebastian Kurz‘ Gegner können kaum leugnen, dass er ein echtes Ausnahmetalent ist. Er hat seine Volkspartei radikal modernisiert und damit aus einer langen Phase des politischen Abstiegs befreit.

Er hat zwei Nationalratswahlen gewonnen, was in der ÖVP trotz struktureller konservativer Mehrheit im letzten halben Jahrhundert sonst nur ein einziges Mal gelang, und wurde zweimal zum Bundeskanzler gewählt. Sein Charisma, politisches Gespür und junges Alter werden in Erinnerung bleiben, aber wie sieht es mit seinem wirtschaftspolitischen Wirken aus?

Mit 24 Jahren wurde Kurz 2011 zum ersten Mal Mitglied einer Bundesregierung. Als Staatssekretär für Integration setzte er neue Akzente. Etwa, indem er ehrenamtliche Integrationsbotschafter motivierte, sich für die Integration stark zu machen.

Für seine Initiativen erntete er viel Lob, auch seitens der Wirtschaft, die in der guten Eingliederung von Migranten zu Recht wirtschaftliche Vorteile sah. Als er 2014 mit 27 Jahren zum „jüngsten Außenminister der Welt“ aufstieg, entwickelte er eine deutlich skeptischere Sicht und avancierte zum Kritiker offener Grenzen.

Die große Anzahl an Flüchtlingen, die im Laufe des Jahres 2015 nach Europa kam, polarisierte die öffentliche Meinung in der gesamten EU. Geschickt trat Kurz für eine Schließung der „Westbalkanroute“ ein und setzte sich als Gegenspieler von Bundeskanzlerin Merkel in Szene.

Gabriel Felbermayr ist in Deutschland gut bekannt. Nach seiner Habilitation an der Uni Tübingen unterrichtete der österreichische Ökonom am Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft in Hohenheim. Von 2010 bis 2019 leitete er das ifo Zentrum für internationale Wirtschaft in München. Zuletzt war er Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Seit Oktober ist der 45-Jährige nun Chef des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien. dpa

Der Autor

Gabriel Felbermayr ist in Deutschland gut bekannt. Nach seiner Habilitation an der Uni Tübingen unterrichtete der österreichische Ökonom am Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft in Hohenheim. Von 2010 bis 2019 leitete er das ifo Zentrum für internationale Wirtschaft in München. Zuletzt war er Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Seit Oktober ist der 45-Jährige nun Chef des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Als der Flüchtlings-Deal der EU mit der Türkei den Strom tatsächlich zum Versiegen brachte, konnte er dies als seinen Erfolg verbuchen. Auf Basis dieser Welle formte er seine Partei zur Bewegung „Liste Sebastian Kurz – Die neue Volkspartei (ÖVP)“ um und gewann bei Neuwahlen eine deutliche relative Mehrheit von 31,5 Prozent der Stimmen.

Die folgende ÖVP-FPÖ-Regierung unter Bundeskanzler Kurz kürzte das Kindergeld für im Ausland lebende Kinder von Immigranten und erhöhte die kleinen Pensionen um mehr als die eigentlich vorgesehene Inflation.

Eine Senkung der Körperschaftssteuer wurde 2019 vom Platzen der Koalition mit der FPÖ im Zuge des Ibiza-Skandals und der parlamentarischen Abwahl von Kurz verhindert. Mit 37,5 Prozent gelang ihm bei den Neuwahlen ein grandioses Comeback und er schmiedete 2020 eine konservativ-grüne Bundesregierung.

Seine immigrationsskeptische Rhetorik änderte er auch in der neuen Konstellation nicht. Österreich blieb dennoch ein Einwanderungsland. Die Anzahl der im Ausland geborenen Menschen ist in Österreich während der Regierungsbeteiligung von Sebastian Kurz nach OECD-Statistik um etwas mehr als 450.000 Menschen von 15,2 auf 19,3 Prozent gestiegen.

Der Anteil ist in der EU nur in Schweden und Luxemburg höher (2019). In Deutschland war die Dynamik seit 2011 schwächer, trotz der höheren Offenheit während der Flüchtlingskrise. Der Anteil der im Ausland geborenen Menschen stieg um einen ganzen Prozentpunkt weniger stark als in Österreich.


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Überhaupt waren die letzten zehn Jahre in Österreich durch eine starke Bevölkerungsdynamik geprägt. Die Erwerbsbevölkerung ist bis zum Ausbruch der Coronakrise um 8,0 Prozent gewachsen; in Deutschland nur um 7,2 Prozent. Diese Dynamik hielt die Arbeitslosigkeit auf für Österreich auf unüblich hohem Niveau, sorgte aber auch für ein relativ gutes Wachstum des Bruttoinlandsprodukts.

Fiskalpolitisch war die Regierung erfolgreich: Die Neuverschuldung konnte 2017 auf 0,8 Prozent des BIP gesenkt und in den Jahren 2018 und 2019 eine schwarze Null erwirtschaftet werden. Der Bruttoschuldenstand konnte auf 70,6 Prozent des BIP im Jahre 2019 abgesenkt werden.

Es ist allerdings fraglich, ob dieser Erfolg ursächlich auf eine sparsame Haushaltspolitik der ersten Kurz-Regierung zurückzuführen ist oder vielmehr auf sinkende Zinsen und eine gute Beschäftigungslage aufbaut. Unumstritten ist allerdings, dass die fiskalpolitischen Spielräume nicht, wie in anderen Eurozonenländern, für sozialpolitische Vorhaben verausgabt wurden.

Gemischte Coronabilanz

Das reale BIP legte in Österreich vom 1. Quartal 2017 bis zum letzten Quartal vor der Coronakrise um insgesamt 4,7 Prozent zu, in der Eurozone um 4,8 Prozent. Eine durchschnittliche Performance also, die im Vergleich mit dem nur um 3,5 Prozent gewachsenen Deutschland allerdings etwas heller leuchtet.

Die verfügbaren Haushaltseinkommen sind während der Kanzlerschaft von 26.754 Euro pro Person im Jahr 2016 auf 28.098 Euro im Jahr 2019 vor der Coronakrise angewachsen, nachdem sie zuvor über einige Jahre stagnierten. Ein relativ stabiles Wirtschaftswachstum, steigende Beschäftigung und neue Sozialleistungen, allen voran der Familienbonus, trugen zu dieser Entwicklung trotz einer dynamisch wachsenden Bevölkerung bei.

Die Jury

Die Jurorinnen und Juroren

Was für ein Jahr – die Coronapandemie dominiert in weiten Teilen weiter unser (Wirtschafts-)Leben. Im September kommt es in Berlin zum politischen Wechsel. Auf Angela Merkel (CDU) folgt Olaf Scholz (SPD) als neuer Bundeskanzler. Die deutsche Wirtschaft steht vor ihrer wohl größten Transformation. Wer sind die Denker und Lenker dieses vielschichtigen Geschehens? Wer gewinnt an Einfluss, wer verliert? Zum zwölften Mal in Folge kürt das Handelsblatt die „Menschen des Jahres“. Zur Jury gehörten in diesem Jahr: Deutsche-Bank-Managerin Anna Herrhausen, Vizekanzler a. D. Philipp Rösler, Investorin Judith Dada (La Famiglia), Personalberater Ralf Landmann (Spencer Stuart) sowie Unternehmer Arndt Kirchhoff (Kirchhoff Gruppe). Ergänzt wurde die Jury, die erneut per Videokonferenz tagte, durch die Redaktion von Chefredakteur Sebastian Matthes, Peter Brors, Tanja Kewes und Claudia Panster.

In der Coronakrise hat Kurz eine gemischte Bilanz vorzuweisen. Bis in den Spätherbst 2020 lag Österreich in der Bilanz der Coronatodesopfer vor vielen EU-Staaten, insbesondere vor Deutschland. Die doppelte Welle im Winter 2020/21 und die mittlerweile vierte Infektionswelle im Spätherbst 2021 haben dazu geführt, dass in Österreich 13.200 Tote zu beklagen sind; also fast 0,15 Prozent der Bevölkerung.

Das ist deutlich besser als der EU-Durchschnitt, der bei 0,19 liegt, aber schlechter als Deutschland (0,13). Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist die Coronabilanz weder sehr schlecht noch sehr gut. Trotz starker Schwankungen hat Österreich im 3. Quartal 2021 das Vorkrisenniveau wieder erreicht; die Eurozone und besonders Deutschland noch nicht. Die Kosten für diesen Vorsprung sind nicht unerheblich: Kein EU-Staat hat mehr für die Stabilisierung der Unternehmen ausgegeben.

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In der Koalition mit den Grünen gelang 2021 der Einstieg in eine öko-soziale Steuerreform. Kernstück ist die Bepreisung von CO2-Emissionen – zwar mit einem relativ niedrigen, erst ab Juli 2022 geltenden Satz von 30 Euro, aber graduell steigend und in Kombination mit einem innovativen Klimabonus, der die Einnahmen aus der Bepreisung regional gestaffelt, aber pauschal an die Bürger zurückgibt.

Außerdem gelang – wenn auch in geringem Ausmaß – die Senkung der Lohnnebenkosten für Geringverdienende und ein Ausgleich der kalten Progression. Die Steuerreform ist nicht nur absolut, sondern auch relativ zum BIP die größte Entlastung der letzten Jahrzehnte.

Weniger strahlend hingegen war Kurz‘ europapolitisches Agieren. Gemeinsam mit anderen sparsamen EU-Staaten konnte er den Einstieg Europas in gemeinsame Schulden nicht verhindern. Daran ändert auch die durchgesetzte stärkere Konditionalität nur wenig.

Dass deutlich mehr Geld nach Wien fließt, als in den ersten Plänen der EU-Kommission vorgesehen war, ist sicher ein Erfolg. Doch der Eindruck bleibt, dass seine Regierung zu spät und ohne überzeugende Gegenvorschläge in die Debatte um einen Wachstumspakt für Europa eingestiegen ist.

Kurz hat immer wieder überrascht, alte Strukturen und Tabus gebrochen sowie die bisher dröge Innenpolitik dynamisiert. Es bleibt für Österreich und seine Volkswirtschaft zu hoffen, dass zumindest der Stillstand vergangener Jahrzehnte nachhaltig überwunden wurde und Kurz‘ politische Erben nun dringend notwendige Reformen in Angriff nehmen.

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