Die Metall-Arbeitgeber fordern die Bundesregierung auf, bei der Arbeitszeiterfassung nicht über das Ziel hinauszuschießen. Vertrauensarbeitszeit müsse auch künftig möglich bleiben.
Arbeitszeiterfassung
In den Unternehmen herrscht Rechtsunsicherheit, was die Urteile des EuGH und des Bundesarbeitsgerichts für die betriebliche Praxis bedeuten.
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Berlin Der Metallarbeitgeberverband Gesamtmetall sieht nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung große Unsicherheit in den Unternehmen. Seit Bekanntwerden der Urteilsbegründung im Dezember 2022 „herrscht bei Anwaltskanzleien und Beratern Goldgräberstimmung“, sagte Verbandspräsident Stefan Wolf am Dienstag in Berlin. Viele Firmen suchten nach externer Hilfe.
Gleichzeitig warnte er die Bundesregierung davor, auf das Urteil mit einer rigiden Neufassung des Arbeitszeitrechts zu reagieren: „Wir brauchen ein modernes Arbeitszeitrecht für die moderne Arbeitswelt.“
Die Diskussion um das Arbeitszeitrecht geht zurück auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Mai 2019. Die Luxemburger Richter hatten in einem spanischen Fall entschieden, dass Arbeitgeber „ein objektives, verlässliches und zugängliches System“ einführen müssen, „mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen wird“. Das deutsche Arbeitszeitgesetz verpflichtet bisher nur zur Erfassung von Überstunden.
Die Große Koalition hatte sich nach der EuGH-Entscheidung aber nicht zu einer Gesetzesnovelle durchringen können. Im September 2022 entschied dann das Bundesarbeitsgericht unter Verweis auf das Arbeitsschutzgesetz, dass auch Arbeitgeber in Deutschland verpflichtet sind, eine Arbeitszeiterfassung einzuführen.
Nach Lesart des Bundesarbeitsministeriums ist der Arbeitgeber nicht nur verpflichtet, das Erfassungssystem bereitzustellen, sondern auch tatsächlich davon Gebrauch zu machen. Das Bundesarbeitsgericht habe ohne Not große Rechtsunsicherheit geschaffen, weil es viel zum „Ob“, nicht aber zum „Wie“ der Arbeitszeiterfassung ausgeführt habe, sagte Gesamtmetall-Präsident Wolf.
Die Betriebe warten nun auf eine Klarstellung in Gesetzesform. Das Bundeskabinett soll voraussichtlich im ersten Quartal über den Entwurf für eine Reform des Arbeitszeitgesetzes entscheiden. So sieht es zumindest der Zeitplan des Arbeitsministeriums vor. Verbandschef Wolf sagte aber, nach seinen Informationen wolle sich die Regierung bis zur zweiten Jahreshälfte Zeit lassen.
Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf (r.), Gutachter Sascha Stowasser
„Wir brauchen ein modernes Arbeitszeitrecht für die moderne Arbeitswelt.“
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Flankiert von gleich drei Gutachtern warb Wolf am Dienstag dafür, die Rechtsunsicherheit schnell und pragmatisch zu beseitigen. Vertrauensarbeitszeit müsse auch weiterhin möglich sein. Sascha Stowasser, Direktor des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft (IFAA), betonte, dass gerade die junge Generation Wert auf selbstbestimmtes Arbeiten lege: „Arbeitszeitflexibilität ist auch von den Beschäftigten gewünscht und gefordert.“ Das IFAA wird von den Metallarbeitgeberverbänden getragen.
Gregor Thüsing, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn, gab zu bedenken, dass das Europarecht, auf das sich auch das Bundesarbeitsgericht beziehe, keineswegs so streng ausgelegt werden müsse wie oft gedacht. So gebe es auch vier Jahre nach der EuGH-Entscheidung neben Deutschland mit Belgien, Dänemark, Schweden und Italien vier weitere Länder ohne verpflichtende Arbeitszeiterfassung.
Die EU scheint diese Auslegung bisher ebenfalls zuzulassen. Trotz des EuGH-Spruchs habe die EU-Kommission bisher kein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, sagte Clemens Höpfner, geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts sei für die Rechtsetzung „schlicht irrelevant“, es komme auf das Europarecht an, das Auslegungsspielraum lasse, betonte Höpfner.
>> Lesen Sie hier: Arbeitsrechtler Stephan Vielmeier zur Arbeitszeiterfassung – „Augenmaß gibt es nur per Gesetz“
Die Bundesregierung müsse die flexiblen Möglichkeiten des EU-Rechts nutzen, fordert Gesamtmetall-Chef Wolf. So sollte die Höchstarbeitszeit von der täglichen auf eine wöchentliche Basis umgestellt werden. Auch müsse es eine echte Wahlfreiheit bei der Form der Arbeitszeiterfassung geben, die Übertragung der Erfassung auf den Arbeitnehmer müsse möglich bleiben.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte bereits den Versuch gestartet, im Gesetz zur Anpassung der Minijob-Grenzen auch eine Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung in bestimmten Branchen einzuführen. Damit war er aber am Widerstand des Koalitionspartners FDP gescheitert.
Gesamtmetall argumentiert, wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber einvernehmlich und freiwillig auf die Erfassung der Arbeitszeit verzichteten, dann solle der Gesetzgeber dies akzeptieren. Dem hielt die Direktorin des gewerkschaftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeitsrecht (HSI), Johanna Wenckebach, auf Twitter entgegen, im Arbeitsverhältnis passiere ja so viel „einvernehmlich und freiwillig“ – vor allem der Verzicht auf Arbeitnehmerschutzrechte. Grenzen bei der Arbeitszeit seien nicht, wie von Gesamtmetall behauptet, Ausdruck von „Fremdbestimmung“, sondern dienten dem Arbeitsschutz.
Nach einer neuen Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) gehört die Erfassung von Arbeitszeiten für vier von fünf Beschäftigten zum Arbeitsalltag. Außerdem gebe es heute mehr Möglichkeiten, Arbeitszeiten flexibel zu gestalten als in früheren Jahren. Dies hat auch mit der Zunahme der Arbeit aus dem Homeoffice im Zuge der Corona-Pandemie zu tun.
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