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07.09.2020

04:00

Autogipfel

Institut der deutschen Wirtschaft analysiert Autobranche – und ist schonungslos

Von: Daniel Delhaes, Roman Tyborski

PremiumDie Autoindustrie leidet unter den Folgen der Coronakrise. Einer Studie zufolge beschleunigt die Pandemie insbesondere die Probleme kleiner Zulieferer.

Autogipfel: Institut der deutschen Wirtschaft analysiert Autobranche  dpa

Produktion bei Ford

Autobauer und große Zulieferer schichten Arbeitsbereiche um.

Berlin Das Auto der Zukunft fährt elektrisch und nutzt dazu Ökostrom oder auch Wasserstoff, es sendet Daten, ermöglicht innovative Mobilitätskonzepte und fährt weitgehend autonom. Natürlich wird es zu großen Teilen in Deutschland produziert und gibt vielen Menschen auch in Zukunft Arbeit. So stellt sich die Bundesregierung die Welt des Autos vor und will genau darüber am Dienstag beim nächsten Autogipfel im Kanzleramt reden.

Vor den wichtigen Zukunftsfragen aber werden sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU), ihre Minister, die Ministerpräsidenten der Autoländer, die Autobosse von BMW, Daimler und Volkswagen sowie die großen Zulieferer wie Bosch, Continental und ZF ebenso wie die Arbeitnehmervertreter mit zwei aktuellen Fragen beschäftigen: Wie ist die Lage der Autobranche? Und: Wie geht es weiter?

Die Runde redet über Deutschlands Schlüsselindustrie schlechthin. Und sie redet über eine Branche, die sich angesichts strenger Grenzwerte für Emissionen und des Dieselskandals derart unter Druck sieht, dass der nötige Strukturwandel nicht nur schmerzhafte Einschnitte bedeutet, sondern auch gravierende Folgen für die deutsche Volkswirtschaft und die globale Wirtschaft haben wird. All das beschleunigt sich durch die Coronakrise.

Eine genaue Untersuchung dazu hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) erstellt. Der 45 Seiten umfassende Bericht liegt dem Handelsblatt exklusiv vor. Demnach ist die global agierende Branche mit 9,8 Prozent an der Bruttowertschöpfung weiterhin die zentrale Industrie des Landes und stützt viele andere Branchen wie die Metallerzeugung, elektrische Ausrüstungen, Maschinenbau, Glas und Keramik oder Telekommunikation.

Die Autoindustrie hat sich laut IW „in den letzten zehn Jahren signifikant besser entwickelt als das verarbeitende Gewerbe insgesamt“ und damit maßgeblich zum Wachstum beigetragen. Doch dieser Trend kehrt sich um – nicht nur wegen Corona. Die Pandemie habe „die Autoindustrie im Branchenvergleich hart getroffen“. Zunächst seien die globalen Lieferketten von einem Angebotsschock getroffen worden. „Jetzt ist die Branche mit einem Nachfrageschock konfrontiert, von dem sie sich nur langsam wieder erholt.“

„Die Wachstumslokomotive fällt aus“

Erschwert werde die Situation dadurch, dass bereits hohe Überkapazitäten existiert hätten und der technologische Wandel die Geschäftsergebnisse belastet habe. „In der Folge steht die Autoindustrie erstmals nach einem Jahrzehnt wieder vor spürbaren Personalanpassungen und wird als Wachstumslokomotive für den Standort Deutschland zunächst ausfallen“, stellt das IW-Team fest.

Kein Wunder, dass auch die Ministerpräsidenten der Autoländer alarmiert sind und weitere Hilfen fordern, nachdem es beim Konjunkturpaket keine Mehrheit für eine Abwrackprämie gegeben hatte. Nun plädierte etwa Markus Söder (CSU) dafür, Maßnahmen „jenseits der Kaufprämie“ zu beschließen. Er hält es für sinnvoll, die Mehrwertsteuer über dieses Jahr hinaus bei 16 Prozent beizubehalten und nicht wieder wie geplant auf 19 Prozent anzuheben. Darüber hinaus befürwortet Söder eine Kaufprämie in Form einer „CO2-Prämie“.

Der Chef der IG Metall NRW, Knut Giesler, forderte kürzlich eine Weiterbildungsoffensive, um dem drohenden Stellenabbau mit Qualifizierung zu begegnen. Die Mitarbeiter sollten die Zeit dafür durch eine Vier-Tage-Woche erhalten. Den Vorstoß unterstützt auch die Chemiegewerkschaft IG BCE, die bereits einen Tarifvertrag hat, der eine Absenkung der Arbeitszeit von 40 auf 32 Stunden ermöglicht.

„Unserer Auffassung nach könnte dabei eine Kombination aus temporärer Reduzierung der Arbeitszeit und durch die Bundesanstalt für Arbeit finanzierte Weiterbildung ein Ansatzpunkt sein“, sagte Gewerkschaftsboss Michael Vassiliadis diese Woche in Berlin. „Das wäre genau die Art von Kooperation, die wir jetzt brauchen: von Beschäftigten, Unternehmen und Staat. Und die Kombination aus Jobsicherung und Zukunftsgestaltung.“ Vassiliadis fordert einen „Schutzschirm für Zulieferer“ und notfalls eine „staatliche Beteiligung an kleinen und mittelständischen Firmen“.

Die Gewerkschaften wollen auch regionale Beteiligungsfonds, um Umstrukturierungen zu meistern. Den Vorschlag hat sich am Donnerstag auch die SPD-Bundestagsfraktion auf ihrer Klausurtagung zu eigen gemacht. Zudem soll der Staat helfen, Ideen konsequent in Produkte umzusetzen und so die Modernisierung voranzutreiben.

In der Tat fällt der Autoindustrie eine überragende Bedeutung für den Forschungsstandort zu, wie das IW attestiert: Fast 40 Prozent der Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen im verarbeitenden Gewerbe stammen von der Autoindustrie, bei der Auftragsforschung sind es sogar fast zwei Drittel. Entsprechend dominiert die Autoindustrie die Patentlandschaft.

In der Branche selbst führt laut IW der größte Zulieferer Bosch mit mehr als 20 Prozent aller Patente die Liste an. Die Top Ten der Zulieferer kommen auf 47,2 Prozent der Patente, die Hersteller auf 37,2 Prozent. Im Jahr 2017 entfielen laut IW mehr als elf Prozent der Patente auf Elektroantriebe inklusive Brennstoffzelle, Hybridgetriebe und Energiespeichertechnik.

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Absatzhilfen reichen nicht mehr aus

Die Autoindustrie tätigte mit mehr als 45 Milliarden Euro 6,6 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Bruttoanlageinvestitionen. „Keine andere Industriebranche investierte so viel am Standort Deutschland, wie es die Autoindustrie getan hat“, lautet das IW-Fazit. Und auch die Löhne sind überdurchschnittlich hoch: So verdienten laut IW die 892.000 direkt Beschäftigten 3,9 Prozent der Bruttolohnsumme, obwohl sie nur 2,2 Prozent aller Arbeitnehmer ausmachen. Direkt und indirekt leben 936.000 Menschen von der Autoindustrie. Innerhalb der EU sind es weitere 38,9 Milliarden Euro Wertschöpfung für rund 808.000 Beschäftigte.

Ähnlich wie die Gewerkschaften, stellt auch Studienautor Thomas Puls fest, dass Absatzhilfen der Branche nicht mehr helfen. Die Branche sei längst „kein monolithischer Block. Es gibt entscheidende Unterschiede zwischen den Herstellern, den großen sowie den kleinen Zulieferern.“

Während die Autobauer und großen Zulieferer ihre Arbeitsbereiche umschichten, weg von den konventionellen Antrieben hin zur Elektromobilität, haben Zulieferer wie die Gießer von Motorenblöcken diese Möglichkeit nicht. „Corona wirkte wie ein Brandbeschleuniger auf die ohnehin stattfindende Veränderung hin zu mehr Elektronik und der Elektrifizierung der Fahrzeuge“, sagt Puls.

In Deutschland gibt es mittlerweile nur noch zwei große Motorblockgießereien für Pkw: Fritz Winter und das Eisenwerk Brühl. Die deutschen Autohersteller beziehen einen Großteil ihrer Motorblöcke von diesen beiden Gießereien. Von der Halberg Guss wiederum kommen keine Blöcke mehr.

Hier gingen nach einem langen Überlebenskampf Ende Juni die Lichter aus. Im November 2019 hatte die ehemals dritte große Motorblockgießerei in Deutschland Insolvenz angemeldet. Damals hatte Halberg Guss noch 1200 Mitarbeiter. Am Ende waren es nur noch 240, die die letzten Motorblöcke und Zylinderköpfe im Saarbrücker Werk gossen.

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Betroffen sind die kleineren Zulieferer

Die betroffenen Mittelständler stehen für die Hälfte der Branche. „Die Last der Transformation hin zum elektrifizierten Antriebsstrang liegt besonders schwer auf den kleineren Zulieferern, die sich auf Produkte im Antriebsstrang spezialisiert haben“, heißt es im IW-Bericht. Dort drohe ein großer Personalabbau, da der Markt kontinuierlich schrumpfe. Hinzu komme, dass viele Unternehmen durch die Hersteller derart unter Margendruck stünden und so in der Vergangenheit kaum Rücklagen gebildet werden konnten, „die jetzt für eine Anpassung an den technischen Megatrend nötig wären“.

Die Absatzkrise der vergangenen Monate verschärfe das Problem und ebenso die Insourcing-Debatte bei den Herstellern: „Die Erfahrung mit unterbrochenen Lieferketten, aber auch Druck der Betriebsräte führt dazu, dass an vielen Stellen geprüft wird, ob bisher an Zulieferer vergebene Tätigkeiten in die Konzerne zurückgeholt werden könnten“, schreiben die Forscher. Hierdurch sollen Lieferketten abgesichert und eigene Kapazitäten besser ausgelastet werden. „Hier muss die Politik überlegen, wie sie den kleineren Zulieferern helfen kann“, empfiehlt Puls.

Bei den mittelgroßen Zulieferern ist die Not aber ebenfalls groß. Hella hatte wegen der Coronaschäden zunächst angepeilt, etwa 900 Stellen zu streichen. Mitte August korrigierte das Management des Scheinwerferspezialisten aus dem westfälischen Lippstadt die Zahl um 150 nach oben. Außerdem steht der Verkauf der Tochtergesellschaft Hella Aglaia im Raum. 2006 übernahm Hella den Softwarespezialisten für Fahrerassistenzsysteme.

Hella zählt immerhin zu den Zulieferern, die vor der Coronakrise ihre Hausaufgaben gemacht und die gewinnbringenden Jahre der Autoindustrie genutzt hatten, um sich finanziell gut aufzustellen. Anders sieht das bei Benteler aus. Das Familienunternehmen schlitterte bereits vor der Pandemie in die Krise. Ende 2019 schockierte der Vorstand die Mitarbeiter mit einem Stellenabbauprogramm, das die Entlassung von 600 der 3600 Angestellten in der Stahlrohrsparte des Autozulieferers vorsieht.

Benteler hatte sich bereits vor der Coronakrise massiv verschuldet. Einem Umsatz von etwas mehr als acht Milliarden Euro steht eine Verschuldung von etwa zwei Milliarden Euro gegenüber. Laut dem „Manager Magazin“ musste das Familienunternehmen auf Druck der finanzierenden Banken einen Restrukturierungsmanager installieren. Außerdem sollen die Gläubiger den Abgang des langjährigen Finanzvorstandes Guido Huppertz vorangetrieben haben, der sich seit 20 Jahren um die Finanzen bei Benteler gekümmert hatte.

Konzerne wie Conti müssen massiv sparen

Bleibt das Problem, dass die Hersteller immer größere Teile der Wertschöpfungskette vereinnahmen. Dies bekommt Continental, der zweitgrößte Autozulieferer Deutschlands, zu spüren. Auch deshalb habe das Unternehmen „zu hohe Produktionskapazitäten für zu wenig Nachfrage“, wie Personalvorständin Ariane Reinhart kürzlich im Handelsblatt erklärte.

Die Folge: Selbst große Zulieferer wie Conti müssen sparen. Am Dienstag verkündete der Vorstand um Konzernchef Elmar Degenhart eine Verschärfung des bestehenden Sparprogramms, das erst im September 2019 vorgestellt worden war. Statt 500 Millionen Euro pro Jahr ab 2023 einzusparen, will das Management jetzt die Kosten um rund eine Milliarde Euro jährlich absenken. Weltweit stehen 30.000 Arbeitsplätze auf der Kippe, allein in Deutschland könnte es 13.000 Conti-Mitarbeiter treffen.

Bei ZF Friedrichshafen sind die Größenordnungen ähnlich. Die Nummer drei in Deutschland wird 15.000 Stellen abbauen. Beim Branchenführer Bosch geht der Vorstand Werk für Werk durch und baut ebenfalls Tausende Stellen ab. Alle drei Zulieferer versuchen zudem, mit einer Absenkung der Arbeitszeit und der Investitionsausgaben die Kosten in den Griff zu bekommen.

Conti-Chef Degenhart sieht sogar eine neue Zeitrechnung auf die Autoindustrie zukommen. „Nach etwa einem Jahrzehnt des schnellen, profitablen Wachstums und Beschäftigungsaufbaus entlang des bisherigen Wachstumsmodells der Autoindustrie richten wir uns jetzt auf eine neue Art des Wachstums mit Zukunftstechnologien aus.“

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