Die CDU will auf ihrem Parteitag neue Werte beschließen. Grundsatzprogrammchef Linnemann verteidigt den neuen Kurs. Doch in einer wichtigen Abstimmung droht eine Niederlage.
Carsten Linnemann
Der Vizeparteichef will der CDU eine neue Agenda verpassen.
Bild: IMAGO/Chris Emil Janßen
Berlin Der Chef der Grundsatzprogrammkommission der CDU, Carsten Linnemann, rechnet mit Angela Merkel wegen ihrer letzten Regierungsjahre ab und kündigt eine Neuausrichtung an. „Grundrente, Mütterrente oder Rente mit 63 waren Gießkannenpolitik“, sagte der 44-Jährige im Gespräch mit dem Handelsblatt.
Linnemann sitzt seit 2009 im Bundestag und ist nach der Wahlniederlage zum stellvertretenden CDU-Chef und als Leiter Programmkommission zur Nummer zwei hinter Friedrich Merz aufgestiegen. Er soll der Partei einen neuen Kurs geben. „Es darf nicht sein, dass die CDU nur ins Kanzleramt einziehen will, um zu regieren“, sagte der Ostwestfale.
Die CDU sei seit der letzten Bundestagswahl in weiten Teilen inhaltlich entkernt und habe auf drängende Fragen der Zeit keine Antworten mehr gegeben. „Das müssen wir jetzt dringend nachholen. Die CDU braucht eine klare Agenda.“
Anfang September werden sich 1001 Delegierte erstmals wieder nach drei Jahren zu einem ordentlichen Parteitag treffen. Dort sollen sie sich bereits ein neues Wertegerüst geben. Eine Kommission hatte es im Mai vorgelegt.
Die Präambel fürs vierte Grundsatzprogramm trägt den Titel: „Grundwertecharta“. Es geht um Freiheit, um Solidarität und um Subsidiarität. Die CDU werde „immer vom Individuum ausgehen, nicht vom Kollektiv“, stellte Linnemann fest. „Diese Grundwerte müssen uns auch in der Tagespolitik leiten, die vor allem in der Fraktion stattfindet.“ Bis Ende 2023 sollen zehn Arbeitsgruppen den Entwurf für das Grundsatzprogramm erarbeiten. Daraus soll dann ein Wahlprogramm entstehen.
Linnemann aber weiß: Die CDU muss angesichts der Krisen schnell konkret werden und kann sich nicht nur darauf konzentrieren, lange Linien aufzuzeigen. Jetzt gilt es, Deutschlands Rolle in der Welt festzulegen.
Ideen gibt es: „Wir müssen in Zukunft auf Augenhöhe auftreten“, forderte Linnemann. Das gelte etwa im Umgang mit China, wo ausländische Unternehmen den Staat beteiligen müssen, bevor sie investieren dürfen. „Wenn China bei uns Unternehmen kaufen oder in Infrastruktur investieren will, dann muss dies im Umkehrschluss auch für europäische Unternehmen in China gelten. Solche Gleichbehandlungsgrundsätze gehören meiner Meinung nach auch ins Grundsatzprogramm unserer Partei.“
Die Welt erlebe einen Wettlauf der Systeme und der Werte. Um diesen Wettbewerb zu gewinnen, sei ein starkes „Kerneuropa“ wichtig und darüber hinaus „ein Freihandel mit Ländern wie Großbritannien bis hin zur Ukraine, der Türkei und Israel. Und dann braucht es einen Markt der Freiheit über Amerika bis nach Australien und Japan mit all jenen, die unsere Werte teilen.“
In der aktuellen Debatte um die Energiekrise hatte kürzlich CDU-Vize Michael Kretschmer die Energiewende der Merkel-Regierung und den damit verbundenen Ausstieg aus der Kernenergie für gescheitert erklärt.
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Linnemann zufolge fehlte ein Konzept, um autark auch ohne Kernkraft in Deutschland die Stromproduktion gewährleisten zu können. Fatal sei auch gewesen, dass auch die Forschung beendet wurde. „Für uns steht fest: Unser Grundsatzprogramm wird nur die vorletzten Antworten geben können, weil wir nicht allwissend sind. Deshalb gilt: Wir schließen grundsätzlich keine Technologien aus, schon gar nicht in der Forschung.“
Längere Laufzeiten der drei verbliebenen Atomkraftwerke gehören für ihn zum Energiemix. „Die Lage gebietet, dass die Meiler länger laufen. Anstatt Klarheit zu schaffen, widerspricht sich die Ampelkoalition jeden Tag aufs Neue. Herr Habeck mag die Dinge volksnah erklären. Sein Problem aber ist: Er entscheidet nicht. Es ist Zeit zu entscheiden.“ Energieversorgung müsse europäisch gedacht werden.
Linnemann war bis zu seiner neuen Rolle Vorsitzender der Mittelstandsunion. Er und Merz gehören zum Wirtschaftsflügel, was für Misstrauen bei den Sozialpolitikern sorgt. Sie fühlen sich ungehört.
„Wir sollten mit dem alten Flügeldenken aufhören und als eine Union denken und handeln“, beschwichtigte Linnemann hingegen und nannte ein Beispiel. „Wenn wir immer älter werden, ist es meiner Meinung nach klar, dass die Lebensarbeitszeit für die, die länger arbeiten können, erhöht werden muss.“ Gleichzeitig müsse denjenigen, die etwa mit 58 nicht mehr arbeiten könnten, zielgerichtet geholfen werden – „und zwar mit voller Wucht“.
Kernkraftwerk Isar 2
Sollen Atomkraftwerke in Deutschland länger am Netz bleiben? Die CDU ist dafür.
Bild: dpa
Zugleich aber lehnt Linnemann wie Parteichef Merz das geplante Bürgergeld ab, mit dem die Ampelkoalition das Hartz-IV-System ablösen will. „Die Koalition beerdigt gerade unter Mitwirkung der FDP die Agenda 2010 von Gerhard Schröder. Zukünftig gilt nur noch: fördern, nicht mehr: fordern“, kritisierte er. „Ein Sozialsystem ohne Sanktionen ist wie ein Fußballspiel ohne gelbe und rote Karten. Das kann nicht funktionieren. Wir haben auch eine Verantwortung gegenüber den Steuerzahlern, die mit ihren Steuern unser Sozialsystem überhaupt erst ermöglichen.“
Solidarität bestehe für jeden mit der Grundsicherung. Darüber hinaus sei im Sinne der Subsidiarität jeder zunächst für sich allein verantwortlich. „Wir sollten aber Leistungen mehr pauschalisieren und Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessern, damit die Menschen schneller wieder auf die eigenen Beine kommen.“
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Die Partei debattiert intern noch den Entwurf des sechsseitigen Grundwertepapiers. Zum einen steht die Frage im Raum, ob die Partei sich als „bürgerlich“ bezeichnet. Wie es heißt, wünschen sich einige damit, eine bürgerlich-konservative und wirtschaftsliberale Partei zu werden. Kritiker sagen, dann gehe der Charakter als Volkspartei verloren und auch das C im Namen.
Zum anderen geht es um den Begriff der Gleichstellung. Auf den hatte die Kommission verzichtet, weil er inzwischen als „identitär“ gelte und nicht mehr bedeute, gleiche Chancen zu schaffen, sondern gleich Ergebnisse. Der Bundesvorstand besteht auf dem Begriff.
CDU-Chef Friedrich Merz
Der CDU-Parteichef sorgte mit einem geplanten Treffen mit dem Trump-Anhänger und US-Senator Graham für Wirbel.
Bild: IMAGO/Jacob Schröter
An ihm entzündet sich gleich noch eine andere Debatte: die um die Frauenquote. Die Junge Union und auch die Mittelstandsunion stellen - unterstützt von inzwischen fast 1000 Unterschriften aus der Partei - einen Antrag gegen die Quote. Auch soll es eine geheime Abstimmung geben, damit jeder Delegierte frei entscheiden kann.
Es wäre eine Niederlage für Friedrich Merz, ausgerechnet am ersten Tag des Parteitags. Der Parteichef will das Thema vom Tisch haben. Der vorliegende Vorschlag, bald in allen Gremien Parität herzustellen, stammt aus dem Jahr 2020 und wurde schon damals heftig diskutiert. Beschließen konnte ihn die Partei nicht: Nötig dafür ist ein Präsenzparteitag, der bislang aufgrund von Corona immer wieder ausfiel.
„Friedrich Merz wird alle überraschen“, zeigte sich Linnemann überzeugt. „Er wird eine sehr, sehr gute Rede zu den großen Fragen dieser Zeit halten. Die Rede wird den ersten Tag bestimmen, seien Sie sicher.“
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