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11.08.2021

09:39

Interview

Rentenexperte Axel Börsch-Supan: „Keine Partei traut sich zu sagen, was gesagt werden müsste“

Von: Frank Specht

Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik wehrt sich gegen den Vorwurf von „Horrorprognosen“. Er fordert, das Rentenalter an die Lebenserwartung zu koppeln.

„Zu sagen, Ökonomen übertreiben mit ihren Prognosen immer, ist billiger Quatsch.“ Sebastian Pfütze/laif

Rentenexperte Axel Börsch-Supan

„Zu sagen, Ökonomen übertreiben mit ihren Prognosen immer, ist billiger Quatsch.“

Der Rentenexperte Axel Börsch-Supan vermisst im Bundestagswahlkampf Ehrlichkeit und tragfähige Konzepte in der Rentenpolitik. „Keine Partei traut sich zu sagen, was gesagt werden müsste: dass die Rentenerhöhungen, solange die Babyboomer-Generationen leben, sehr mager ausfallen werden. Und dass wir das Rentenalter an die Lebenserwartung anpassen müssen“, sagte der Direktor der sozialpolitischen Abteilung des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik dem Handelsblatt.

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hatte Anfang Juni ein Gutachten unter Federführung Börsch-Supans vorgelegt, in dem die Experten eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung empfehlen. Damit hatten sie quer durch das politische Spektrum Ablehnung provoziert.

Die politischen Versprechungen der SPD, der Grünen und der Linkspartei, das Rentenniveau auch über 2025 hinaus bei mindestens 48 Prozent zu halten oder sogar zu erhöhen, hält der Wissenschaftler für wenig glaubwürdig: „Man muss dann vor allem sagen, wie es finanziert werden soll, und das tun die Parteiprogramme nicht wirklich.“

Implizit sagten die Parteien, dass dann halt der Steuerzahler draufzahlen müsse, sagte Börsch-Supan. Steuergeld falle aber nicht „wie Manna vom Himmel“. Im Jahr 2045 müsste mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts in die Rentenkasse fließen, wenn das Rentenniveau bei 48 Prozent und der Beitrag bei 20 Prozent stabilisiert werden sollen, rechnet Börsch-Supan vor. „Selbst eine Linkspartei wird die Steuern nicht so erhöhen können, dass das tragbar wäre.“

Lesen Sie hier das vollständige Interview mit Axel Börsch-Supan:

Kann sich heute ein Wahlkämpfer noch mit gutem Gewissen hinstellen und sagen: Die Rente ist sicher."?
Das denke ich schon. Unsere Rente ist in gutem Zustand, aber wir müssen das System an den demografischen Wandel anpassen.

Wenn Sie sich die Rentenpläne in den Wahlprogrammen anschauen: Welche Partei überzeugt Sie da am meisten?
Keine Partei traut sich zu sagen, was gesagt werden müsste: dass die Rentenerhöhungen, solange die Babyboomer-Generationen leben, sehr mager ausfallen werden. Und dass wir das Rentenalter an die Lebenserwartung anpassen müssen. Wenn die weiter steigt, können wir die gewonnene Zeit nicht allein im Ruhestand verbringen, sondern müssen auch ein bisschen länger arbeiten. Franz Müntefering würde sagen, das ist sauerländisches Volksschulwissen.

Als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium haben Sie genau diese Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung ins Spiel gebracht. Überrascht Sie die Heftigkeit der ablehnenden Reaktionen?
Unsere Aufgabe als Gutachter ist, zu sagen, was gemacht werden muss, und nicht, Wahlen zu gewinnen. Politiker wollen Wahlen gewinnen. Was mich ärgert, ist, dass viele uns vorwerfen, wir wollten die Rente mit 68. Wir müssen das Rentenalter an die Lebenserwartung koppeln. Und wenn die Lebenserwartung sinkt, wie wir es in den USA bereits beobachten, kann das Rentenalter auch wieder sinken. Aber man kann das eine nicht vom anderen abkoppeln, wie einige Politiker suggerieren.

SPD, Grüne und Linke versprechen, das Rentenniveau über 2025 hinaus bei mindestens 48 Prozent zu stabilisieren oder es sogar zu erhöhen. Halten Sie das für realistisch?
Man muss dann vor allem sagen, wie es finanziert werden soll, und das tun die Parteiprogramme nicht wirklich. Implizit sagen die Parteien, dann muss halt der Steuerzahler draufzahlen. Und dabei tun sie so, als sei der Steuerzahler jemand anderes als der Beitragszahler und als ob Steuereinnahmen wie Manna vom Himmel fallen.

Grafik

Schon heute fließen jährlich mehr als 100 Milliarden Euro Steuergeld in die Rente …
Eben. Würde man das Rentenniveau dauerhaft bei 48 Prozent und den Beitragssatz bei 20 Prozent stabilisieren, müsste im Jahr 2045 mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts in die Rente fließen. Selbst eine Linkspartei wird die Steuern nicht so erhöhen können, dass das tragbar wäre. So viele Reiche, die man zur Kasse bitten könnte, haben wir nicht im Land.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sagt, wir müssen nur die Beschäftigung hochhalten, dann lösen sich die Finanzierungsprobleme bei der Rente von selbst. Alle früheren Horrorszenarien hätten sich in Luft aufgelöst, weil der Arbeitsmarkt boomte.
Die grundsätzliche Aussage, dass mehr Beschäftigung hilft, ist völlig richtig, aber auch hier kommt es auf die Masse an. Es sind heute schon viel mehr Menschen beschäftigt als zu Zeiten der Rürup-Kommission Anfang der 2000er-Jahre. Und will nicht gerade die SPD die Arbeitsmarktreformen, die zu diesem Beschäftigungsboom mit beigetragen haben, teilweise zurückdrehen? Da sagt Herr Scholz bei der Rente das eine und in der Arbeitsmarktpolitik das andere. Das widerspricht sich.

Und die Horrorprognosen?
Zu sagen, Ökonomen übertreiben mit ihren Prognosen immer, ist billiger Quatsch. Wir haben erlebt, wie ganze Rentensysteme vor die Wand gefahren wurden, in Italien beispielsweise, in Großbritannien gibt es Probleme. In Schweden ist das System kollabiert, bevor das neue aufgebaut wurde, das heute als vorbildlich gilt. Und im Übrigen: Beim Klimawandel hat man auch lange gesagt, dass das alles übertrieben werde.

Löst eine Einbeziehung weiterer Gruppen von Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung deren Finanzierungsprobleme?
Überhaupt nicht. Bezieht man beispielsweise die Beamten ein, verschärft das die Finanzierungsprobleme eher, weil sie durchschnittlich eine längere Lebenserwartung haben als Arbeitnehmer. Trotzdem bin ich dafür, die gesetzliche Rente in eine Erwerbstätigenversicherung umzuwandeln, schon damit endlich die Debatte über die Besserstellung der Beamten aufhört.

Die Union schlägt einen Alterssicherungsbeirat vor, um Vorschläge für Haltelinien beim Rentenniveau und beim Beitragssatz zu entwickeln. Was kann der besser machen als die Rentenkommission, die ja bereits Vorschläge entwickelt hat?
Neue Beiräte bringen gar nichts. Wir haben einen Sozialbeirat, den Sachverständigenrat, die Bundesbank, die Wissenschaftlichen Beiräte beim Wirtschafts- und beim Finanzministerium – sie alle äußern sich regelmäßig zur Rente. An Expertise mangelt es weiß Gott nicht.

Union, FDP und Grüne sprechen sich – mit unterschiedlichen Konzepten – für eine stärkere Kapitaldeckung bei der Rente aus. Ist das realistisch?
Das kann uns langfristig helfen. Aber für die Alterssicherung der Babyboomer, ja selbst die meiner Kinder kommt das zu spät, da sie bereits große Ansprüche an die gesetzliche Rente haben. Für die Rentenprobleme der nächsten 15 Jahre kann die kapitalgedeckte Altersversorgung keine Rettungslösung sein. All die Ansprüche, die bereits jetzt in der gesetzlichen Rente stecken, kann man nicht durch Kapitaldeckung ersetzen.

Und langfristig?
Wenn man die Rente auch nur graduell vom Umlageverfahren auf Kapitaldeckung umstellt, muss die mittlere Generation mehr für ihre eigene Rente sparen und gleichzeitig weiter für die Älteren in die Umlage einzahlen. Diese Doppelbelastung lässt sich schultern, wenn es viele Erwerbstätige und wenige Rentner gibt, wie es in den 1980er- und 1990er-Jahren der Fall war. Damals hätte man konsequent mehr Kapitaldeckung einführen müssen, hat sich aber nicht getraut. Heute haben wir genau den umgekehrten Fall: viele Rentner der Babyboom-Generation, aber wenige erwerbstätige Kinder. Daher wäre es unklug, jetzt vollumfänglich Kapitaldeckung einzuführen. Wir sollten lieber zunächst die Riesterrente reformieren und die Betriebsrenten stärken und in 15 Jahren wieder darüber diskutieren, ob eine grundlegende Umstellung der Rente auf deutlich mehr Kapitaldeckung sinnvoll ist.

Herr Börsch-Supan, vielen Dank für das Interview.

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