In der Pandemie sind vor allem Familien unter Druck geraten. Doch die Parteien setzen bislang nur auf moderate Anpassungen. Experten erklären, welche Vorschläge besser funktionieren.
Familienpolitik unter der Lupe
Was planen die Parteien für Eltern und Kinder in Deutschland?
Bild: dpa
Berlin Nach etwa anderthalb Jahren Pandemie lässt sich ohne Zweifel feststellen: Familien in Deutschland werden durch die Coronakrise extrem belastet. Widrige Umstände – wie etwa geschlossene Schulen und Kitas, Homeschooling sowie Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit – lasten auf Eltern und Kindern.
Die Parteien könnten nun in den Wettstreit treten, wie Eltern finanziell maximal entlastet werden sollten. Sie könnten sich mit Vorschlägen überbieten, wie sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern ließe. Sie könnten für mehr wirtschaftliche Stabilität von Familien durch mehr Gleichstellung sorgen.
Das Handelsblatt hat mit Helmut Rainer vom Münchener Ifo-Institut und Katharina Wrohlich (Lesen Sie hier das gesamte Interview) vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) 400 Seiten der Wahlprogramme von Union, SPD, Grünen und FDP unter diesem Blickwinkel durchforstet. Was genau in den Wahlprogrammen steckt und wie Experten die Vorschläge bewerten, erfahren Sie im Wahlcheck:
Die 2007 eingeführte Familienleistung, die fehlendes Einkommen ausgleicht, wenn Eltern ihr Kind nach der Geburt betreuen, nimmt in allen Programmen viel Raum ein. Die Union will die Zahlungen von derzeit 14 auf insgesamt 16 Monate ausweiten, wenn sowohl Vater als auch Mutter Elternzeit nehmen.
Ähnlich plant es die FDP mit ihrem „Update“ für das Elterngeld. Die Bezugsdauer soll mittels „Partnermonaten“ aber nur auf 15 Monate erhöht werden. Als Inflationsausgleich wollen die Liberalen Mindest- und Maximalbeträge anheben. Den Grünen schwebt beim Elterngeld eine „Kinderzeit Plus“ mit 24 Monaten vor: Pro Elternteil soll es je acht Monate geben, weitere acht Monate können flexibel untereinander aufgeteilt werden. Bei Teilzeit verlängert sich der Bezugszeitraum entsprechend.
Aufmerksam werden die Arbeitgeber registrieren, dass die grüne Kinderzeit Plus bis zum 14. Geburtstag des Kindes möglich sein soll. Derzeit kann Elternzeit nur bis zum achten Geburtstag des Kindes genommen werden. In dieser Zeit gibt es eine Absicherung, etwa Kündigungsschutz.
Die SPD verspricht wiederum eine „Familienarbeitszeit“, die nach dem ersten Lebensjahr eines Kindes einsetzt: Wenn in Familien beide Elternteile gleichzeitig oder Alleinerziehende etwas weniger als Vollzeit arbeiten, sollen sie künftig je zehn Monate Elterngeld Plus erhalten.
Die Höhe des Elterngeldes während der geförderten Elternteilzeit: mindestens 200 und höchstens 900 Euro monatlich. Die Leistung soll nach dem Willen der Sozialdemokraten bis zum achten Geburtstag des Kindes genutzt werden können.
DIW-Ökonomin Wrohlich lobt zwar die Parteien dafür, dass sie das Konzept des Elterngeldes weiterentwickeln wollen: Diese familienpolitische Leistung und insbesondere die Partnermonate seien wichtig, weil sie Anreize für eine gleichmäßigere Aufteilung der Erwerbs- und Sorgearbeit bei Paaren setzten.
Die Parteien müssten aber „noch einen Schritt weitergehen“ und für paritätische Partnermonate sorgen. Zugleich dürften die Regeln nicht zu kompliziert werden: „Elterngeld Plus, hier noch ein Bonus, da verschiedene Bezugszeiten – da blickt dann am Ende keiner mehr durch.“
Für Ifo-Ökonom Rainer ist die Betreuungsinfrastruktur von „elementarer Bedeutung“ und das effektivste familienpolitische Instrument, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Erwerbstätigkeit vor allem von Frauen zu befördern. Er verweist auf empirische Befunde, dass es beim Kita- und Krippenausbau seit 2015 praktisch zum Stillstand gekommen ist.
Zudem hat die Pandemie eindrücklich gezeigt, wie wichtig die frühkindliche Bildung für die Entwicklung der Kinder ist und wie sehr die Familien auf eine verlässliche Betreuung angewiesen sind. Angesichts dieser Situation zeigen sich die Parteien kaum innovativ: Alle versichern, den Kitaausbau vorantreiben und die Qualität der Betreuung steigern zu wollen. Konkrete Zusagen gibt es jedoch kaum.
Die Union verspricht: „Wir werden den Kitaausbau und die Weiterentwicklung der Qualität auch über 2022 hinaus weiter fördern.“ Details: Fehlanzeige. Dafür kommt von CDU und CSU der Vorschlag, das bestehende Instrument der Zeitwertkonten „praktikabler“ zu gestalten und als „Familienzeitkonten“ für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nutzbar zu machen: „Eltern sollen angesparte Zeiten einsetzen können, um in der Familienphase ohne finanzielle Nachteile weniger zu arbeiten.“
Die FDP will Betriebskindergärten steuerlich fördern, die Betreuungszeiten flexibilisieren und die steuerliche Absetzbarkeit von Betreuungskosten ermöglichen. Kitas sollen für Kinder mit „niedrigem sozioökonomischen Status“ einen „German Dream“-Zuschuss erhalten, der individuelle Förderung ermöglicht.
Die Grünen geloben, für Kitas und den Primarbereich die Investitionen „deutlich zu erhöhen.“ Zudem soll es ein „Bundesqualitätsgesetz“ geben sowie einen Mindeststandard für den Fachkraft-Kind-Schlüssel: Auf einen Erzieher dürfen höchstens vier unter Dreijährige oder neun Kinder ab drei Jahren kommen. Hier sieht die Realität meist anders aus.
So betreute zuletzt laut Ländermonitoring der Bertelsmann Stiftung in Mecklenburg-Vorpommern eine pädagogische Fachkraft sechs Krippen- oder 13 Kindergartenkinder. Das Problem, dass die Bundesländer Mindeststandards zustimmen müssten, weil Bildung Ländersache ist, klammern die Grünen allerdings aus.
Grüne wie auch die SPD erkennen darüber hinaus das Problem des Fachkräftemangels in der frühkindlichen Bildung und haben deshalb eine „Fachkräfteoffensive“ mit fairen und schulgeldfreien Ausbildungsvergütungen in ihre Wahlprogramme geschrieben. Die SPD gibt eine konkrete Zusage: „Unser Ziel ist es, die Zahl der Nachwuchskräfte in den erzieherischen Berufen bis 2030 bundesweit zu verdoppeln.“. Zudem sichern SPD und Grüne einen Rechtsanspruch auf ein ganztägiges Bildungs- und Betreuungsangebot im Grundschulalter zu.
Wrohlich, die beim DIW die Forschungsgruppe Gender Economics leitet, hält es für „wichtige Ziele“, den Kitaausbau voranzutreiben und auch die Qualität der Betreuung zu steigern: „Es ist richtig, dass dieser Weg konsequent weitergegangen wird.“ Ideen wie das Familienzeitkonto der Union blieben allerdings vage: „Es stellen sich arbeitsrechtliche Fragen. Und was ist mit Paaren, die ein Kind bekommen, bevor sie überhaupt gearbeitet haben?“ Wrohlich verweist auf Instrumente, die bewährt seien, etwa die Elternzeit: „Da existiert ein Kündigungsschutz, ein Rückkehrrecht, ein Recht auf Teilzeit. Das ist sehr konkret.“
Zwischen Union, SPD, Grünen und FDP besteht zwar Einigkeit, dass Anreize für eine partnerschaftlichere Aufteilung der Erwerbs- und Sorgearbeit geschaffen werden müssen. Beim Ehegattensplitting, das sich negativ auf die Erwerbstätigkeit und das Arbeitsvolumen von Frauen auswirken kann, gehen die Konzepte allerdings weit auseinander.
Grüne und SPD wollen an das seit 1958 bestehende Splitting ran. „Das deutsche Steuerrecht steckt noch im letzten Jahrhundert fest“, kritisieren die Grünen in ihrem Wahlprogramm. Es gelte nach wie vor das Modell eines männlichen Ernährers und einer Frau, die höchstens dazuverdiene. Die SPD bemängelt: Nutznießer seien vor allem Alleinverdiener-Ehepaare mit hohen Einkommen unabhängig von der Kinderzahl.
Die Lösung aus grüner Sicht: Für neu geschlossene Ehen wird eine individuelle Besteuerung mit übertragbarem Grundfreibetrag eingeführt. Paare, die bereits verheiratet sind, können sich entscheiden, ob sie sich einzeln veranlagen oder das Ehegattensplitting nutzen wollen.
Ein solches Wahlrecht für bestehende Ehen sichert auch die SPD zu. Für neu geschlossene Ehen soll aber das Ehegattensplitting „geändert“ werden. „Die Sozialdemokraten bleiben bei ihren Vorschlägen sehr vage“, kritisiert DIW-Expertin Wrohlich.
Union und FDP hingegen versprechen, am Ehegattensplitting festzuhalten. Die Union möchte es „perspektivisch“ um ein „Kindersplitting“ ergänzen, indem der Kinderfreibetrag auf das Erwachsenenniveau gehoben wird. Die FDP will künftig stärker mit Steuergutschriften arbeiten. „Dadurch wirken Freibeträge besser für die niedrigen und mittleren Einkommen“, heißt es im Wahlprogramm der Liberalen.
Für Ifo-Experte Rainer reichen die Rezepte der Parteien „aus rein ökonomischer Sicht“ nicht aus. Am effektivsten sei zwar eine „radikale Reform“ mit der Abschaffung des Ehegattensplittings und dem Wechsel zur Individualbesteuerung. Rainer verweist auf Berechnungen, nach denen sich mit diesem Schritt die Arbeitsstunden von Frauen in Deutschland um bis zu 25 Prozent steigern ließen.
Er macht aber auch auf verfassungsrechtliche Bedenken aufmerksam. „Die Zeichen stehen also realistischerweise eher auf Realsplitting mit übertragbarem Grundfreibetrag“, meint Rainer. Allein schon die Coronakrise fordere die Parteien aber zum Handeln auf: In der Pandemie seien – anders als in anderen Rezessionen – vor allem Frauen betroffen gewesen. Ihre Arbeitsstunden seien drastisch zurückgegangen.
Und während Männer nach einer Arbeitslosigkeit meist wieder Vollzeitstellen bekämen, blieben die Frauen nun beim geringeren Arbeitsvolumen. „Auch hier entfaltet das Ehegattensplitting eine stark negative Wirkung“, erklärt Rainer. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) hat jüngst berechnet, dass eine Abschaffung des Ehegattensplittings 500.000 Vollzeit-Jobs bringen könnte. Das Bruttoinlandsprodukt würde einmalig um bis zu 1,5 Prozent steigen.
Insgesamt sind die Experten enttäuscht. Ökonom Rainer sagt: „Die großen Baustellen in der Familien- und Steuerpolitik werden nicht ernsthaft angegangen.“ Dabei existierten sie schon seit Jahren. Auch Wrohlich sieht die Wahlprogramme kritisch: „Die wichtigen Themen werden angesprochen. Aber aus meiner Sicht sind die Vorschläge zu wenig radikal, etwa beim Elterngeld oder Ehegattensplitting.“
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