Recycling-Anlage
Der hohe Preis für Erdöl, dem wichtigsten Vorprodukt für die Kunststoffproduktion, treibt derzeit die Nachfrage für wiederverwertetes Plastik.
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Bis 2050 will Europa klimaneutral sein, Deutschland sogar bis 2045. Doch dafür müssen neue Technologien und Verfahren her – und grundlegende Spielregeln.
Berlin So wirklich funktioniert das Recycling im Lande bislang nicht. Zwar trennen die Deutschen beflissen ihren Müll mehr recht als schlecht. Aber kaum eine Verpackung, die im gelben Sack landet, findet später wieder als Shampooflasche oder Joghurtbecher den Weg ins Verkaufsregal. Allenfalls als Blumentopf taugt der recycelte Kunststoff. Meist landet er in der Verfeuerungsanlage.
Christian Schiller hat sich vorgenommen, das zu ändern. Der Unternehmer hat gemeinsam mit seinem Partner Volkan Bilici mit Cirplus einen Online-Marktplatz für Kunststoff-Recyclate aufgebaut, der Entsorger und Einkäufer der Verpackungshersteller zusammenbringen will.
Der hohe Preis für Erdöl, dem wichtigsten Vorprodukt für die Kunststoffproduktion, treibt derzeit die Nachfrage für wiederverwertetes Plastik. Dennoch verharrt der Markt in der Nische: „Markenhersteller wie Henkel oder Beiersdorf brauchen große Mengen an Material. Diese in gleichbleibend verlässlicher Qualität zu bekommen ist oft schwierig“, sagt der 36-Jährige. Was fehlt, sind Standards.
Bis 2050 will Europa klimaneutral sein, Deutschland sogar bis 2045. Das erfordert ein radikales Umsteuern: Neue Technologien und neue Verfahren müssen her – für die zirkuläre Wirtschaft, für emissionsarme Mobilität, für Nullenergiehäuser. Zugleich müssen für diese Ideen Märkte entstehen. Ohne Standards aber gibt es in der Regel keine Märkte, es sei denn, jemand ist mit seiner Marktmacht in der Lage, sein Produkt zum Standard zu erklären.
Wer Technologien für eine saubere Wirtschaft anbietet, dem winken riesige Märkte. Die Europäer sehen sich als Vorreiter, aber die USA unter Präsident Joe Biden und China schicken sich an, ihnen Konkurrenz zu machen.
Viele Unternehmen scheinen das verstanden zu haben: Sie investieren wie Volkswagen stark in die Elektromobilität, geben – wie etwa BMW-Chef Oliver Zipse – die Parole „Secondary first“ aus – wo möglich sollen künftig wiederverwertete Materialien verbaut werden. Oder sie bauen, wie der Chemiekonzern BASF, in Schwarzheide eine Pilotanlage, die Lithium aus Elektroauto-Akkus zurückgewinnen soll. Und dann ist da noch die Vernetzung etwa von Mobilität, die im autonom fahrenden Auto münden soll.
Aber: „Es reicht nicht, dass sich jeder Einzelne mit dem Thema beschäftigt“, sagt Christoph Winterhalter, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für Normung (DIN). „Man muss sich jetzt auf die grundlegenden Spielregeln verständigen.“
Sprich: Experten aus Industrie und Wissenschaft sollen in den jeweiligen Gremien von DIN, Internationaler Organisation für Normung (ISO) oder CEN und CENELEC auf EU-Ebene untereinander Standards und Normen aushandeln, die weithin akzeptierte Lösungen für ein bestimmtes Problem definieren. „Der Konsens ist der vernünftige Weg, um Doppelarbeit zu verhindern“, sagt Roland Bent, Leiter der einschlägigen Arbeitsgruppe 6 der nationalen Plattform Zukunft der Mobilität (NPM).
Autonome Fahrzeuge sind etwa ein Teil der neuen Mobilität, die nachhaltig und klimaneutral sein soll. „Der Green Deal der Europäischen Union bedeutet, dass wir etwa den Energie- und den Verkehrssektor vernetzen“, sagt Bent. „Diese Vernetzung ist aber nur möglich, wenn wir uns auf Normen und Standards verständigen. Wir bekommen die Systeme nicht anders zusammen.“
Für die neue Welt der Mobilität ermittelt die Arbeitsgruppe 6 der NPM den Normungsbedarf. Zu den Mitgliedern gehören auch Autobauer wie Audi und BMW, Gutachter wie Dekra und Tüv, Elektrotechniker wie Mennekes oder der Software-Konzern SAP. Ihre Erkenntnisse leitet die Gruppe als „Roadmaps“ weiter an die nationalen Normierungsgremien, die ihre Ergebnisse wiederum in internationale Gremien einspeisen.
Wie zum Beispiel kann ein Elektroauto Strom tanken? Wenn der Stecker nicht in die Buchse im Auto passt, dann kann es nicht mit Strom geladen werden.
Der Datenaustausch zwischen dem Auto und der Ladesäule funktioniert nur mit Standards und Regeln. Erst dann ist benutzerfreundliches Laden möglich. Das Ziel sei „ein Roamingsystem wie im Mobilfunk“, sagt Bent.
Ein Audi e-tron, ein Ford Mustang Mach-e oder ein Volkswagen ID.3 kommunizieren mit der Ladesäule via Standard ISO 15118-2. Viele andere Fahrzeuge nutzen noch die Norm SPEC 70121. Doch die ISO-Norm hat den Vorteil, dass sie die Koppelung der Bereiche Verkehr, Gebäude und Energie ermöglicht.
Sobald der Fahrer den Stecker in die Ladebuchse am Auto steckt, fließen sämtliche Daten sofort an den Stromanbieter samt Abrechnungen. „Mit dem starken Hochlauf der Elektromobilität gewinnt das intelligente Lastmanagement an Bedeutung, damit wir die Stromnetze optimal und bedarfsgerecht nutzen und da, wo nötig, ausbauen“, sagt Bent. Ansonsten droht das Netz zusammenzubrechen, wenn immer mehr E-Autos geladen werden müssen.
Die grüne Transformation revolutioniert auch das Recycling, das mit der Idee der Kreislaufwirtschaft nur noch wenig zu tun hat: „Es reicht nicht mehr, Joghurtbecher und Deckel getrennt in den gelben Sack zu werfen“, sagt DIN-Chef Winterhalter. Autos, Smartphones und Smart Homes – komplexe Produkte müssten zerlegt und die Einzelteile wiederverwendet werden.
Dafür müssten sich Konstrukteure, Hersteller und Wiederaufbereiter zusammensetzen und definieren, wie das am besten gelingen kann. Bis zu 80 Prozent der Umweltauswirkungen eines Produktes seien schon im Design angelegt, sagt Winterhalter. Es reiche daher nicht, erst am Ende des Lebenszyklus über Recycling nachzudenken.
Was früher verkürzt Kreislaufwirtschaft hieß, soll nun als zirkuläre Wirtschaft weit mehr sein, vom Produktdesign bis zum Recycling. Dieser Ansatz könnte das Klima schonen und sogar Arbeitsplätze schaffen. „Wir schätzen, dass bis 2030 eine zusätzliche Bruttowertschöpfung von zwölf Milliarden Euro pro Jahr erreichbar ist sowie ein Beschäftigungszuwachs von 177.000 Arbeitsplätzen“, heißt es in einer Studie des Beratungsunternehmen Deloitte im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie.
Andere Länder sind hier bereits weiter als Deutschland, das Land des Grünen Punktes. In Frankreich etwa gibt es seit Jahresbeginn einen Reparaturindex: Wer einen Fernseher oder eine Waschmaschine kauft, kann auf einem Label auf einer Skala von eins bis zehn ablesen, wie gut die Geräte im Falle eines Defektes repariert werden können. Der Ökoverband Germanwatch sieht darin einen „direkten Wettbewerbsvorteil für die Hersteller“.
Die EU-Kommission denkt in eine ähnliche Richtung. Im vergangenen Jahr hat die Brüsseler Behörde einen Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft vorgelegt, noch 2021 will sie Gesetzesvorschläge vorlegen. Dafür dürfte vor allem die Ökodesign-Richtlinie, die seit einigen Jahren die Angaben zur Energieeffizienz von Elektrogeräten regelt, überarbeitet werden.
Das deutsche Programm für Ressourceneffizienz (ProgRess) hinkt da noch deutlich hinterher. Gemeinsam mit dem Bundesumweltministerium und zahlreichen Experten wollen die Normungsorganisationen DIN und DKE nun eine „Roadmap“ erarbeiten, bei der die Kreislaufwirtschaft neuer Normen und Standards bedarf und bei der existierende Normen überarbeitet werden müssen.
Losgehen soll es noch im Sommer, erklärt der verantwortliche DIN-Experte Benjamin Hein. Politik und Wirtschaft seien gleichermaßen gefragt, damit der einstige Recyclingweltmeister Deutschland wieder „eine Vorreiterrolle in Europa“ übernehme.
Der Gründer und Chef von Cirplus, Schiller, hat bereits die Initiative ergriffen: Er brachte, mit Unterstützung des Deutschen Instituts für Normung, im vergangenen August 16 namhafte Entsorger und Verarbeiter an einen Tisch. Nur die Chemiekonzerne als Kunststoffhersteller zeigten wenig Interesse.
In 22 Sitzungen formulierten die Teilnehmer die DIN-Spec 91446, die schließlich im Mai veröffentlicht wurde. Sie regelt, welche Informationen zur Qualität die Recyclingfirmen ihren Abnehmern jeweils zur Verfügung stellen sollen.
Ein erster Schritt sei das, sagt Schiller, weitere sollten folgen. Denn: „Ohne vernünftige Standards für Kunststoff-Recyclate wird dieser Markt nicht skalierbar sein.“
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