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09.09.2021

08:19

Corona

Wie gefährlich ist die vierte Welle?

Von: Barbara Gillmann, Julian Olk

Das RKI warnt massiv vor einer vierten Welle, die Impfquote sei viel zu niedrig, um die Überlastung der Kliniken zu vermeiden. Doch die Spitzen-Wahlkämpfer gehen dem Thema aus dem Weg. 

Umfangreiche Impfungen könnten die vierte Welle verhindern. Doch die Impfquote ist deutlich zu gering. dpa

Coronavirus – Impfung

Umfangreiche Impfungen könnten die vierte Welle verhindern. Doch die Impfquote ist deutlich zu gering.

Berlin Lothar Wieler gilt nicht als jemand, der schnell Panik verbreitet. Doch dieses Mal klingen die Worte des RKI-Chefs dramatisch deutlich: „Wenn wir die aktuellen Impfquoten nicht drastisch steigern, dann kann die aktuelle vierte Welle im Herbst einen fulminanten Verlauf nehmen“, warnt Wieler. Was er meint, sind vor allem überlastete Krankenhäuser, die mit einem Ansturm von Corona-Patienten zu kämpfen haben.

Der Charité-Virologe Christian Drosten hatte schon am Wochenende von „erheblichem Druck auf die Kliniken“ gesprochen. 

„Für Sorgen vor einer starken vierten Welle gibt es gute Gründe“, sagt auch Timo Ulrichs, Epidemiologe am Lehrstuhl für Globale Gesundheit der Akkon-Hochschule Berlin. Schließlich habe sich die Zahl der Intensivpatienten mit Covid-19 allein in den vergangenen zwei Wochen verdoppelt, sagte Ulrichs dem Handelsblatt. Natürlich seien die deutschen Krankenhäuser heute besser aufgestellt als vor eineinhalb Jahren, „aber Massen an Covid-Patienten können wir uns trotzdem nicht erlauben“. 

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) plant daher ab Montag eine Verstärkung der Impfkampagne mithilfe von Ländern und Kommunen. Bei Impfwochen vor Ort sollen niedrigschwellige Angebote gemacht werden – in den sozialen Medien läuft die Aktion unter dem Hashtag #hierwirdgeimpft. 

Auch der Einzelhandel unterstützt die Kampagne. „Der Handel steht für Leben statt Lockdown“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbands HDE, Stefan Genth. Bislang seien in Einkaufszentren bundesweit bereits mehr als 100.000 Impfdosen verabreicht worden. Nun wolle man die Kampagne ausweiten. 

Kanzlerkandidaten gehen beim Thema Corona auf Tauchstation

Doch was die Experten schwer beunruhigt, findet bei einigen der wahlkämpfenden Spitzenpolitiker wenig Aufmerksamkeit. Corona dient etwa bei der Union vor allem als Munition gegen den politischen Gegner: So forderte Unionskanzlerkandidat Armin Laschet seinen SPD-Konkurrenten Olaf Scholz kürzlich auf, von Begriffen wie „Versuchskaninchen“ Abstand zu nehmen. „Menschen sind keine Versuchskaninchen in diesem Land“, rüffelte er den Vizekanzler. 

Scholz wirbt für Impfungen und hatte etwa bei einem Auftritt in Berlin lediglich gesagt: „Wir alle waren gern eure Versuchskaninchen – bei uns ist das mit der Impfung gut gegangen, jetzt bitte macht es auch.“

Das Desinteresse weckt unangenehme Erinnerungen an den Herbst 2020. Damals hätte die Politik die zweite Welle womöglich verhindern können. Sie entschloss sich aber erst im November zu harten Maßnahmen. Und das ganz ohne Wahlkampf. Nun sieht es noch düsterer aus. Im November 2021 sind voraussichtlich die Koalitionsverhandlungen in vollem Gange – und nur noch eine geschäftsführende Bundesregierung im Amt. 

Im Herbst 2020 war außerdem noch keine Rede von der Delta-Variante des Virus, die mittlerweile das Infektionsgeschehen  beherrscht. Studien zufolge kann die Viruslast bei der Delta-Variante um den Faktor 300 höher sein als beim ursprünglichen Virustyp. „Für Geimpfte in der Umgebung ist dies kein Problem, aber für Ungeimpfte ist die Gefährdung vor dem Hintergrund von Delta wirklich erheblich, sie tragen ein sehr hohes Risiko zu erkranken“, sagt Virus-Experte Clemens Wendtner, Chefarzt der München Klinik Schwabing.

Nur 62 Prozent sind voll geimpft

Doch das, was der vierten Welle noch etwas entgegensetzen könnte, sieht ausgesprochen unbefriedigend aus: die aktuelle Impflage. Erst 62 Prozent der Bevölkerung haben den vollen Impfschutz. Das ist weit entfernt von der ersehnten Herdenimmunität. Der Gesundheitsminister strebt eine Quote von über 90 Prozent bei den über 60-Jährigen und 75 Prozent bei den Zwölf- bis 59-Jährigen an. Dann wäre es unwahrscheinlich, dass die Intensivstationen noch einmal ans Limit kämen, sodass es dann die Aussicht „auf einen sicheren Herbst und Winter“ gäbe, sagte Spahn. Dafür aber müssten schnell mindestens weitere fünf Millionen Menschen geimpft werden. 

Das aber dürfte kaum klappen. Besonders niedrig ist die Impfquote in Ostdeutschland. Das bundesweite Schlusslicht Sachsen liegt sogar fast 20 Prozentpunkte hinter Spitzenreiter Bremen. Auch das ist jedoch ein Thema, das Politiker nicht gern anfassen – vor allem nicht in der entscheidenden Endphase des Wahlkampfs. Nur der unerschrockene Ostbeauftragte Wanderwitz, selbst gebürtiger Sachse, spekulierte schon Mitte August über einen Zusammenhang von hohen Zustimmungsraten für die AfD und niedrigen Impfquoten. 

Noch ist die Lage an den Kliniken ruhig: Am Mittwoch waren 1348 Intensivpatienten mit Covid-19 registriert, 25 mehr als am Vortag. Zum Höhepunkt der Pandemie waren es mehr als 5000. Doch „alle Modellierer und Modelle zeigen, dass die Zahl der Covid-19-Patienten ansteigen wird“, sagte Stefan Kluge, Präsidiumsmitglied der Intensivmedizinervereinigung Divi. 

Sorge mache ihm auch, dass rund 20 Prozent der über 70-Jährigen noch ungeimpft seien. Und „bei den schweren Verläufen handelt es sich fast ausschließlich um Nichtgeimpfte“, sagt Virologe Ulrichs.

Inzidenz stieg in einer Woche um zehn Punkte

Die Sieben-Tage-Inzidenz macht auch wenig Mut. Zwar ist sie zuletzt erstmals seit zwei Monaten an zwei Tagen hintereinander gefallen und lag bei 82,7 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche. Das sei aber keine Trendwende, so RKI-Chef Wieler. Einzelne Tage mit Rückgang sagten nichts aus, entscheidend sei die Entwicklung über Wochen. Und vor einer Woche lag die Inzidenz noch bei gut 75.

Seine Warnungen werden immer lauter. Die Krankenhäuser könnten bald überlastet sein. ddp/Pool Andreas Gora

RKI-Chef Lothar Wieler

Seine Warnungen werden immer lauter. Die Krankenhäuser könnten bald überlastet sein.

Die Inzidenz selbst gilt inzwischen nicht mehr als der entscheidende Wert – ist aber dennoch der vorauslaufende Indikator für die Krankenhauseinweisungen. 

Einen erneuten Lockdown befürchten aktuell allerdings weder die Virologen Ulrichs und Drosten noch der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Die Alternative dazu sei jedoch auch nicht schön, so Lauterbach. Denn dann komme der breite Einsatz der 2G- und 3G-Konzepte zum Tragen – also der Ausschluss von Menschen, die weder geimpft noch genesen sind, von Veranstaltungen oder Restaurantbesuchen. Und in der schärferen Variante auch der Ausschluss der Getesteten, meint Lauterbach. Auch Drosten kann sich nicht vorstellen, dass es im Herbst ohne Kontaktbeschränkungen gehen kann.  

Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärzteverbundes, hält die Verschärfung der Maßnahmen ebenfalls für notwendig. Es werde kaum reichen, die Impfquote durch mobile Angebote zu erhöhen. „Um die vierte Welle zu brechen, bevor sie dramatisch wird, sollte man jetzt bundesweit überall dort, wo es möglich ist, eine 2G-Regel einführen“, sagte Montgomery den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Donnerstag).

Dort, wo es nicht praktikabel wäre, Ungeimpfte auszuschließen, wie etwa im Öffentlichen Nahverkehr, müsse dann zumindest eine strengere 3G-Regel gelten. „Ungeimpfte müssten dann einen aktuellen PCR-Tests vorweisen. Ein einfacher Schnelltest dürfte nicht mehr ausreichen“, sagte Montgomery. Eine solche erweiterte 2G-Regel könne der nötige Anreiz sein, sich impfen zu lassen.

Gesundheitsminister Spahn hält es unterdessen auch für gerechtfertigt, dass ungeimpfte Arbeitnehmer, die in Quarantäne gehen müssen, Lohnabzüge hinnehmen müssten. Er sehe nicht ein, dass andere auf Dauer dafür zahlen sollten, wenn sich Menschen trotz ausreichender Impfstoffe in Deutschland nicht impfen ließen, sagt Spahn. 

Drosten macht in seinem neusten Podcast einen vollkommen neuen Vorschlag für den Kampf gegen die vierte Welle: Er empfiehlt, alle bereits gegen das Coronavirus geimpften Personen sollten sich absichtlich mit dem Virus infizieren, um möglichst viele Antikörper aufzubauen. „Ich will eine Impfimmunität haben, und darauf aufsattelnd will ich dann aber durchaus irgendwann meine erste allgemeine Infektion und die zweite und die dritte haben“, erklärte der Wissenschaftler. Das könne robuster als weitere Impfungen sein.

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