Die Kanzlerin hält Sonderrechte der Regierung wegen Corona weiter für geboten. Ein Gutachten im Auftrag der FDP kommt zu einem anderen Schluss.
Angela Merkel im Bundestag
Die Kanzlerin lehnt eine Aufhebung der nationalen Epidemie-Lage ab
Bild: Bloomberg
Berlin Angela Merkel verfolgt in der Coronakrise eine Politik der äußersten Vorsicht. Daran ändern auch die bundesweit niedrigen Infektionszahlen nichts. Sie „sei nicht ruhig in Bezug auf die Ausbreitung des Virus“, ließ die Kanzlerin bei der Regierungsbefragung am Mittwoch im Bundestag wissen.
„Die Situation ist so unsicher, dass ich die epidemische Lage weiter für gegeben halte“, fügte die CDU-Politikerin hinzu. Gemeint ist die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“, die der Bundestag vor drei Monaten mit breiter Mehrheit feststellte und damit die Regierung zu Alleingängen bei der Pandemiebekämpfung ermächtigte.
Merkel sagte: „Jetzt ist nicht die Stunde, nach einer Beendigung der epidemischen Lage zu fragen.“ Stattdessen müsse alle Kraft darauf verwendet werden, lokale Ausbrüche wie in Gütersloh auch lokal begrenzt zu halten.
Die Frage, die sich stellt, ist allerdings diese: Ist die Aufhebung des „Corona-Ausnahmezustands“ eine rein politische Entscheidung oder verfassungsrechtlich geboten?
Der Staatsrechtler Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg kommt in einem für die FDP-Bundestagsfraktion verfassten Gutachten jedenfalls zu dem Schluss, dass die Einschränkung von Parlamentsrechten zurückgenommen werden muss, wenn die Voraussetzungen dafür nicht mehr vorliegen. Es gebe eine „Aufhebungspflicht“, heißt es in dem Dokument, das dem Handelsblatt vorliegt.
Die im Eilverfahren Ende März beschlossene Änderung des Infektionsschutzgesetzes erlaubt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ein Regieren per Verordnung. Am Parlament vorbei sind sogar Grundrechtseingriffe möglich, wenn der Bundestag den Epidemie-Fall ausruft. Spahns Sonderrechte wegen Corona sind bis zum 31. März 2021 befristet.
Der Minister ging mit den Befugnissen sehr behutsam um. Er nutzte den Verordnungsweg etwa, um ein Register für Intensivkapazitäten in Krankenhäusern zu schaffen oder finanzielle Schutzschirme über verschiedene Bereiche des Gesundheitssystems aufzuspannen.
Doch Kingreen warnt: Eine „Blankovollmacht“ stelle eine Gefahr für die Gewaltenteilung dar. Die Gewichte zwischen „Hauptgesetzgebung“ und „Nebengesetzgebung“ könnten sich durch immer neue Rechtsverordnungen zunehmend verschieben.
Der auf Gesundheitsfragen spezialisierte Staatsrechtler weist auch auf die Formulierung zur epidemischen Lage im Infektionsschutzgesetz hin: Dort stehe nicht, dass der Bundestag die Lage „aufheben kann, sondern dass er sie aufhebt, wenn die Voraussetzungen der Feststellung entfallen sind“. Es sei also keine politische Ermessensentscheidung.
Das „Corona-Ausnahmeregime“ setzt demnach eine systemische Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“ voraus, also für die Gesundheitsinfrastrukturen und damit für die medizinische Versorgung der Bevölkerung.
Das Coronavirus könne zwar für die individuelle Gesundheit nach wie vor sehr gefährlich sein, insbesondere für Risikogruppen. Eine Überforderung des Gesundheitssystems, die Ende März zu befürchten war, drohe gegenwärtig aber nicht.
„Es erscheint außerdem zunehmend widersprüchlich, dass auf der einen Seite viele der Beschränkungen des öffentlichen Lebens ohne negative Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen aufgehoben werden, dass aber auf der anderen Seite nach wie vor eine epidemische Lage von nationaler Tragweite bestehen soll, die ja im Kern eine systemische Gefährdung der Gesundheitsinfrastruktur impliziert“, schreibt Kingreen. „Das verstärkt den Eindruck eines kollektiven Notstands ohne kollektive Not.“
Selbstverständlich könne sich die Risikoeinschätzung jederzeit ändern. Eine „mögliche zukünftige Veränderung des Infektionsgeschehens“ sei aber nicht relevant, heißt es in dem Gutachten. Der Bundestag könne dann einen erneuten Beschluss fassen, um der Regierung den nötigen Handlungsspielraum zu geben.
Die FDP fordert, den Pandemienotfall aufzuheben und Spahns Verordnungen nach einer Prüfung in ordentliche Gesetze zu überführen. „Der Gesundheitsminister hat seine Befugnisse bisher sehr verantwortungsbewusst genutzt“, sagte der innenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, dem Handelsblatt. „Es wäre aber eine Bankrotterklärung des Parlaments, seine Rechte nicht wieder wahrzunehmen.“
Bei Union und SPD stoßen die Liberalen auf Zurückhaltung. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Karin Maag, mahnte: „Die Lage ist weiter volatil, wir haben regionale Ausbruchsherde.“
Dennoch müsse regelmäßig überprüft werden, „ob die gravierenden Eingriffsrechte des Bundesgesundheitsministers weiter angemessen sind“, sagte die CDU-Politikerin dem Handelsblatt. „Nach dem Sommer müssen wir eine Halbzeitbilanz ziehen.“
Die für Gesundheit zuständige SPD-Fraktionsvizechefin Bärbel Bas will die erlassenen Verordnungen zwar „auf den Prüfstand“ stellen. Auch plädiert sie dafür, zum regulären Gesetzgebungsverfahren zurückzukehren: „Wir brauchen diese Verordnungsermächtigung nicht mehr, weil das Parlament arbeitsfähig ist.“
Einen Bundestagsbeschluss zur Aufhebung der epidemischen Lage hält Bas aber für keine gute Idee. Die SPD-Politikerin befürchtet: Dieser Schritt würde die Bevölkerung in Sicherheit wiegen und das Signal aussenden, Corona sei überstanden.
Die Einschränkungen des Parlaments sind aber an genau diesen Sonderzustand gebunden. „Es ist ärgerlich, dass die Debatte über die epidemische Lage mit der Frage vermischt wird, ob Corona besiegt ist“, sagt FDP-Politiker Kuhle. „Das Virus ist weiter da und gefährlich. Hier geht es aber um Parlamentsrechte und nicht um Pandemiebekämpfung.“
Am Freitag trifft sich Spahn vor der Sommerpause mit den Fraktionschefs aller im Bundestag vertretenen Parteien, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Merkel blieb bei der Befragung im Parlament vage, wann für sie der Zeitpunkt für eine Aufhebung der Corona-Lage gekommen sein könnte: „Mit Sicherheit ist sie nicht erforderlich, wenn wir einen Impfstoff haben und Medikamente.“
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