Bis zu 3,8 Millionen Beschäftigte verdienen weniger als den Mindestlohn, zeigt eine DIW-Analyse. Die Forscher plädieren deshalb für eine strengere Arbeitszeiterfassung.
Friseurhandwerk
Seit 2016 geht die Lohnungleichheit zurück, doch noch immer erhalten fast vier Millionen Menschen weniger als den gesetzlichen Mindestlohn von 8,84 Euro brutto pro Stunde.
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Berlin Die Zöllner nahmen sich Restaurants, Frisör- und Taxibetriebe oder Spielhallen vor, befragten 11.000 Beschäftigte und ließen sich Papiere zeigen. Am Ende der bundesweiten Schwerpunktkontrolle Ende Januar leitete die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) 185 Ermittlungsverfahren ein, weil der Mindestlohn von 9,35 Euro pro Stunde nicht eingehalten wird.
Dass die Zöllner dabei möglicherweise nur auf die Spitze des Eisbergs gestoßen sind, zeigt eine neue Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die dem Handelsblatt vorab vorliegt. Demnach erhielten im Jahr 2018 bis zu 3,8 Millionen Beschäftigte weniger als den Mindestlohn, der damals noch bei 8,84 Euro brutto pro Stunde lag.
Die Berliner Wirtschaftsforscher greifen dazu auf Daten ihres Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) zurück, einer jährliche Befragung von etwa 16.000 Haushalten. Dabei werden von Arbeitnehmern unter anderem Stunden- und Monatsverdiente sowie Arbeitszeiten in ihrer Hauptbeschäftigung abgefragt. Selbstständige, Auszubildende oder Praktikanten bleiben außen vor.
Direkt nach ihren Stundenlöhnen gefragt, gaben 750.000 Arbeitnehmer an, weniger als 8,84 Euro zu verdienen. Das entspricht etwa 2,1 Prozent der betrachteten Arbeitnehmer. Vergleicht man den Monatsverdienst mit der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit, erhielten nach eigener Aussage mehr als 2,4 Millionen oder 6,8 Prozent der Anspruchsberechtigten weniger als den Mindestlohn.
Betrachtet man die tatsächlich geleisteten Stunden, wird sogar 3,8 Millionen anspruchsberechtigten Beschäftigten der Mindestlohn vorenthalten, das ist mehr als jeder zehnte der einbezogenen Arbeitnehmer.
„Millionen Menschen werden um den ihnen zustehenden Mindestlohn betrogen – das ist ein Skandal“, sagte Stefan Körzell, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), dem Handelsblatt. „Die Kontrollen müssen massiv verstärkt werden, ansonsten verlieren die Beschäftigten den Glauben an den Rechtsstaat.“
Der DGB fordert neben einer personellen Aufstockung der FKS auch Schwerpunktstaatsanwaltschaften und eine Beweislastumkehr beim Nachweis der geleisteten Arbeitszeit. Bisher müssen Arbeitnehmer nachweisen, dass Überstunden angeordnet und geleistet wurden.
Allerdings weist das SOEP-Verfahren Unschärfen auf. So können die Beschäftigten bei der konkreten Frage nach ihrem Stundenlohn nur schätzen, wenn im Arbeitsvertrag das Monatsentgelt geregelt ist. Auch die tatsächlich geleistete Arbeitszeit beruht teils auf Selbsteinschätzung. Außerdem ist nicht immer klar, inwiefern geleistete Überstunden eventuell später noch vergütet werden.
„Da die meisten Beschäftigten mit ihrem Arbeitgeber Monats- und keine Stundenlöhne vereinbart haben, ist es für eine effektive Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns zentral, die Arbeitszeiten präzise zu erfassen“, schreiben die DIW-Forscher.
Im Mai 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem spanischen Fall entschieden, dass Arbeitgeber ein System einrichten müssen, mit dem für jeden Arbeitnehmer die täglich geleistete Arbeitszeit objektiv und zuverlässig erfasst werden kann. In Deutschland müssen bisher nur Überstunden dokumentiert werden.
Während Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) das Arbeitszeitgesetz behutsam anpassen will, ist Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) skeptisch, weil er neue Bürokratie für die Firmen fürchtet. Ein Rechtsgutachten der Münchener Juristen Volker Rieble und Stephan Vielmeier, das seine Rechtsauffassung stützen soll, hält Altmaier bisher unter Verschluss.
An diesem Mittwoch soll das Ministerium im Wirtschaftsausschuss Auskunft über das Gutachten geben. Auf eine schriftliche Frage der Grünen-Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke schließt es zumindest eine Regulierung durch den Gesetzgeber nicht länger kategorisch aus. Das Gutachten unterbreite mehrere Vorschläge für ein abgestuftes Konzept zur Arbeitszeiterfassung mit Differenzierungsmöglichkeiten, etwa nach Unternehmensgröße oder Einkommen der Arbeitnehmer, schreibt Altmaiers Staatssekretärin Claudia Dörr-Voß.
Es werde Zeit, dass das Wirtschaftsministerium das Gutachten endlich veröffentliche, sagte Müller-Gemmeke. „Es geht darum, die Rechtsunsicherheit für Betriebe und Beschäftigte endlich zu beenden.“ Deshalb müsse eine Gesetzgebung auf den Weg gebracht werden, die das EuGH-Urteil umsetze. „Würde die Umsetzung eines solchen Gesetzentwurfs dazu beitragen, unbezahlte in bezahlte Überstunden zu überführen, dürfte damit auch die Nichteinhaltung des Mindestlohns zurückgehen, schreiben die DIW-Autoren.
Insgesamt hat die Lohnuntergrenze nach Ansicht der Forscher aber positive Effekte gezeigt. So gehe bereits seit 2006 die Lohnungleichheit zurück – eine Entwicklung, die sich mit Einführung des Mindestlohns und dessen Anhebung fortsetze. „Die steigenden Bruttostundenlöhne gerade bei den Geringverdienern haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Lohnungleichheit in Deutschland abgenommen hat“, sagt Studienautor Markus Grabka.
Verdienten die zehn Prozent der Beschäftigten mit den höchsten Bruttostundenlöhnen 2006 noch viermal so viel wie die zehn Prozent mit den niedrigsten Löhnen, so ist das Verhältnis bis 2018 auf knapp 3,6 gesunken. Allerdings liegen die Reallöhne der 30 Prozent mit den geringsten Stundenverdiensten immer noch unter dem Niveau der 1990er-Jahre.
Das DIW hat darüber hinaus erste Anzeichen dafür entdeckt, dass der Niedriglohnsektor schrumpft. Er umfasst Beschäftigte, die weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns (Median) verdienen. 2018 lag diese Niedriglohnschwelle bei nominal rund 11,40 Euro brutto pro Stunde. Arbeiteten 2015 noch 23,7 Prozent der abhängig Beschäftigten in Haupttätigkeit im Niedriglohnsektor, so ist die Quote auf 21,7 Prozent im Jahr 2018 zurückgegangen.
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