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11.03.2022

13:15

Energiekrise

Kann Deutschland sich den Boykott von russischem Erdgas leisten?

Von: Klaus Stratmann

Politik und Wirtschaft arbeiten mit Hochdruck daran, die Gasversorgung für den nächsten Winter sicherzustellen. Engpässe sind aber nicht auszuschließen. Wann der Notfallplan greift.

Deutschland ist stark abhängig von russischem Erdgas. Paul Langrock

Anlandestation der Pipeline Nord Stream 1 in Lubmin

Deutschland ist stark abhängig von russischem Erdgas.

Berlin Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) warnen seit Tagen davor, russische Erdgaslieferungen nach Deutschland mit einem Embargo zu belegen. Die wirtschaftlichen Folgen wären immens, sagen sie. Habeck sorgt sich gar um den sozialen Frieden.

Aber auch dann, wenn Deutschland in den kommenden Monaten weiter russisches Gas bezieht, könnte es eng werden: Die Füllstände der Erdgasspeicher sind niedrig. In den kommenden Monaten müssen alle Akteure an einem Strang ziehen, damit bis zum Beginn des nächsten Winters ausreichende Reserven zur Verfügung stehen. Was würde passieren, wenn es zu Engpässen in der Gasversorgung käme?

Welche Bedeutung hat Gas für die Wirtschaft?

Etwas mehr als ein Drittel des Erdgasverbrauchs in Deutschland geht auf das Konto der Industrie. Zwölf Prozent entfallen auf Gewerbe, Handel und Dienstleistung. Für einzelne Industriebranchen hat Erdgas eine zentrale Bedeutung. Erdgas ist Energieträger für die Strom- und Wärmeerzeugung der Industrie, in vielen Fällen aber auch wichtiger Rohstoff, etwa in der Chemieindustrie.

Welche Dominoeffekte könnten entstehen?

„Ein Stopp der russischen Gaslieferungen hätte weitreichende Sekundäreffekte“, sagt Timm Kehler vom Branchenverband Zukunft Gas. „Viele der gasbasierten Prozessschritte sind elementare Bestandteile der deutschen Kernindustrien Fahrzeugbau oder Chemie. Ohne Gas für die Fahrzeug-Scheibenherstellung oder zur Lacktrocknung droht beispielsweise ein Stopp der Automobilproduktion“, warnt Kehler. 

In der Glasproduktion komme hinzu, dass eine erkaltete Glas-Schmelzwanne einem wirtschaftlichen Totalschaden gleichkomme. Aber nicht nur die Glasherstellung und der Automobilbau wären betroffen.

Große Teile der Industrie sind stark von Gaslieferungen abhängig. dpa

Glasherstellung

Große Teile der Industrie sind stark von Gaslieferungen abhängig.

Erdgas ist auch Grundstoff für die Ammoniakherstellung. Ammoniak wiederum ist unverzichtbar für die Düngemittelproduktion. Ohne Gas drohen somit Produktionsengpässe und Preissteigerungen in Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion. Ohne Ammoniak könnte auch „Adblue“, die Harnstofflösung für die Abgasnachbehandlung in Dieselmotoren, nicht mehr hergestellt werden.

Hat die Industrie Alternativen zum Einsatz von Erdgas?

In Einzelfällen kann Erdgas ersetzt werden. Aber Ersatz, etwa in Form von Kohle oder Öl, ist nicht immer verfügbar. Selbst dort, wo Alternativen zu Gas bestehen, bedarf es technischer Umrüstungen und behördlicher Genehmigungen, etwa dann, wenn in der Kalkindustrie Erdgas durch Braunkohle ersetzt werden soll.

Gibt es regionale Unterschiede bei den Auswirkungen?

Timm Kehler von Zukunft Gas weist darauf hin, dass es starke regionale Unterschiede gibt: Die Folgen eines Versorgungsengpasses wären „insbesondere in Süddeutschland spürbar“, sagt er. Dieser Teil des Landes werde fast ausschließlich durch russisches Erdgas versorgt, alternative Versorgungsrouten verfügten bislang nur über begrenzte Kapazitäten.

„Eine Gasmangellage wird zuerst in den industriellen Zentren Bayerns und Baden-Württembergs spürbar“, sagt Kehler. Mit Blick auf ganz Europa wären nach den Worten Kehlers insbesondere Tschechien, die Slowakei und Ungarn betroffen, in denen wichtige Zulieferer der deutschen Automobilindustrie sitzen. Produktionsausfälle dort würden schnell die Produktion in Deutschland gefährden, warnt Kehler.

Grafik

Wie wichtig ist Erdgas fürs Heizen?

Ein knappes Drittel des Erdgases wird in Deutschland in Privathaushalten fürs Heizen und für die Warmwasseraufbereitung verfeuert. Sieben Prozent des Erdgases wird verbraucht, um damit Fernwärmenetze zu betreiben. Knapp die Hälfte der gut 40 Millionen Wohnungen in Deutschland nutzt Erdgas als Energieträger. Auf dem zweiten Platz landet das Heizen mit Öl. Rund ein Viertel aller deutschen Wohnungen werden so beheizt. 

Die Fernwärme rangiert mit einem Anteil von rund 14 Prozent auf Platz drei, es folgen „sonstige Energieträger“. Dazu zählen unter anderem Flüssiggas, Holzpellets und Kohle. Ihr Anteil liegt bei 7,5 Prozent. Das Heizen mit Strom, also etwa mit elektrischen Wärmepumpen oder Nachtspeicheröfen, ist nur in etwa 4,8 Prozent aller Wohnungen das Mittel der Wahl. 

Es gehört zu den Zielen der Bundesregierung, den Anteil der Wärmepumpen deutlich zu steigern, um die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren. Allerdings sind Wärmepumpen in erster Linie in gut gedämmten Häusern sinnvoll.

Wird es in den Wohnungen kalt?

Das ist zwar nicht komplett auszuschließen, aber es ist sehr unwahrscheinlich. Denn ehe private Haushalte eine Gasmangellage zu spüren bekommen, müssen erst andere Abnehmer auf den Gasverbrauch verzichten.

Geregelt ist das im „Notfallplan Gas“, mit dem das Bundeswirtschaftsministerium die entsprechende EU-Verordnung umgesetzt hat. Darüber hinaus hat die Gasbranche selbst einen detaillierten Leitfaden entwickelt.

Bevor Gaslieferungen an private Haushalte gedrosselt werden, muss erst die Industrie ihren Verbrauch reduzieren. imago images/blickwinkel

Deckel über einer Gasleitung

Bevor Gaslieferungen an private Haushalte gedrosselt werden, muss erst die Industrie ihren Verbrauch reduzieren.

Bevor der Notfallplan greift, müssen alle marktbezogenen Maßnahmen ausgeschöpft sein. Damit sind etwa vertragliche Regelungen über Abschaltungen gemeint. So gibt es beispielsweise Unternehmenskunden, die mit ihrem Gaslieferanten unter bestimmten Bedingungen Lieferunterbrechungen vereinbart haben. Sie lassen sich die Unterbrechung der Lieferung honorieren.

Doch die Potenziale solcher Abschaltungen sind begrenzt. Wenn solche Flexibilitätsoptionen nicht ausreichen und auch eine kurzfristige Gasbeschaffung aus Nachbarländern nicht möglich ist, müssen die Gasnetzbetreiber einen Schritt weiter gehen und die Belieferung an „nicht geschützte Kunden“ einstellen oder kürzen. Das trifft zunächst Gaskraftwerke, solange deren Abschaltung das Stromversorgungssystem insgesamt nicht beeinträchtigt. Sollte diese Maßnahme nicht ausreichen, würde zudem die Gasbelieferung an systemrelevante Gaskraftwerke eingeschränkt.

Wenn das ebenfalls nicht hilft, könnte es in deutschen Wohnungen kalt werden. Es wären dann auch „geschützte Letztverbraucher“ betroffen. Deren Gasbezug dürfe nur gekürzt werden, „wenn andere Maßnahmen nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen“, heißt es im Branchenleitfaden. 

Der „Notfallplan Gas“ des Bundeswirtschaftsministeriums umreißt den Begriff des geschützten Kunden recht genau. Es handelt sich dabei um Haushaltskunden, Heizkraftwerke und „grundlegende soziale Dienste“. Damit sind Krankenhäuser, Feuerwehr, die öffentliche Verwaltung und Bildungseinrichtungen gemeint.

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