Kliniken und die Industrie schlagen Alarm. Sie sorgen sich darum, dass lebenswichtige Technik bald nicht mehr verfügbar sein könnte. Die EU-Kommission dagegen beschwichtigt.
Beschäftigte einer Universitätsklinik
Auch Kliniken in Deutschland könnten von den Engpässen bei den Medizinprodukten betroffen sein.
Bild: dpa
Berlin, Brüssel Die Warnungen der deutschen Medizintechnik-Unternehmen sind mittlerweile auch in Brüssel unüberhörbar. Die Branche spricht seit Monaten von Engpässen oder gar dem Aus zahlreicher lebensnotwendiger Medizinprodukte, die in Kliniken und Arztpraxen gebraucht werden. Im schlimmsten Fall müssten Operationen abgesagt werden, heißt es.
Vor wenigen Tagen baten zahlreiche Interessenverbände in einem Brandbrief an die Europäische Kommission deswegen darum, die sogenannte Medical Device Regulation (MDR) nachzubessern. Das neu geregelte Zulassungsverfahren für Medizinprodukte sei zu aufwendig und habe die Bedingungen massiv verschlechtert, so die Kritik.
Der Unmut steht auch am Dienstag auf der Agenda des EU-Ratstreffens zum Thema Gesundheit in Luxemburg. Für Deutschland nimmt Thomas Steffen teil, Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium unter Karl Lauterbach (SPD). Gemeinsam mit der Wirtschaft wird an einer Liste von Maßnahmen gearbeitet, mit denen die Versorgung gesichert werden kann.
Ein Sprecher der Kommission teilte dem Handelsblatt mit, es gehe unter anderem darum, ob Audits reduziert werden oder per Videokonferenz vereinfacht werden könnten. Man nehme die Bedenken der Wirtschaft sehr ernst. „Wir sind uns bewusst, dass die Umsetzung der neuen Medizinprodukteverordnung eine Herausforderung darstellt“, hieß es.
Die MDR wurde im April 2017 erlassen. Sie gilt seit Mai 2021 und regelt die Zulassung und den Vertrieb von Medizinprodukten, von denen es in Europa laut Bundesverband Medizintechnologie mehr als 450.000 gibt. Nach dem Skandal um fehlerhafte Brustimplantate vor mehr als zehn Jahren hatte die MDR das Ziel, Medizinprodukte sicherer zu machen. Die Mahnungen der Industrie allerdings klingen, als würde sie zum Gegenteil führen.
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Die Medizinproduktehersteller müssen ihre Produkte einer umfangreichen Zertifizierung unterziehen. Sie müssen die Herstellung ihrer Produkte dokumentieren, umfangreiche klinische Studien vor Markteinführung nachweisen und das Produkt während seiner Anwendung kontrollieren lassen. Das alles soll auch für bereits zugelassene Produkte gelten. Bestehende Genehmigungen laufen spätestens 2024 aus.
Hier liegt das Problem: Viele der heute verwendeten Medizinprodukte können möglicherweise nicht rechtzeitig neu zertifiziert sein. Denn der Zeitaufwand dafür ist hoch. „Die Zertifizierung ist vor allem zeitlich eine große Kraftanstrengung. Zeitweise waren 50 bis 60 Prozent unserer Mitarbeitenden im Bereich Entwicklung und Produktzulassung damit beschäftigt, die Dokumentation für bestehende Produkte zu leisten“, heißt es beispielsweise beim Medizinprodukteunternehmen B. Braun.
Erschwerend kommt hinzu, dass es Engpässe bei den sogenannten „Benannten Stellen“ gibt, also denjenigen staatlich autorisierten Stellen, die Prüfungen und Bewertungen von Medizinprodukten vornehmen. Früher gab es 75 dieser Stellen, derzeit 30.
Die durchschnittliche Dauer der Zertifizierung beträgt laut Bundesverband Medizintechnologie aktuell rund 18 Monate. „Immer häufiger werden Anträge von Herstellern mangels Kapazität abgelehnt oder bestehende langjährige Verträge aufgekündigt“, beschreibt Marc-Pierre Möll, Geschäftsführer des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVmed), die Lage.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) hat bereits vor dem Ausfall wichtiger Implantate für orthopädische und unfallchirurgische Operationen gewarnt. „Es ist zu befürchten, dass wir einigen Patientinnen und Patienten bald sagen müssen: Es tut uns leid, wir müssen Ihren Operationstermin absagen, wir bekommen keine passende Prothese für Sie“, sagte der stellvertretende DGOU-Präsident Andreas Halder.
Zudem befürchtet die Gesellschaft, dass viele Hersteller auch klinisch wichtige Bestandsprodukte vom Markt nehmen, da der hohe Aufwand der Re-Zertifizierung oft in keinem Verhältnis zum Verkaufserlös älterer Produkte stehe. Insbesondere könnte das Spezialprodukte treffen, die nur in sehr kleiner Stückzahl angefertigt werden, um in ausgewählten Fällen zum Einsatz zu kommen – in denen sie aber unverzichtbar sind.
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Stents für Babys etwa oder Katheter für verklebte Herzklappen bei Neugeboren sind solche Nischenprodukte, für die es keine Alternativen gibt, wenn das Produkt eingestellt wird. Das hatte eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) und des Industrieverbandes Spectaris unter 378 Unternehmen der Branche Anfang Mai gezeigt.
Der Erhebung zufolge nehmen die Medizintechnikunternehmen bereits zahlreiche Bestandsprodukte vom Markt – in 16 von 21 abgefragten Anwendungsgebieten streicht mindestens die Hälfte der darin tätigen Unternehmen einzelne Produkte, ganze Produktlinien oder gar komplette Sortimente, wie zum Beispiel in der Orthopädie oder bei den klassischen chirurgischen Instrumenten. Eine Umfrage der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) im April kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Hunderte Produkte seien demnach bereits heute nicht mehr erhältlich.
Gefordert werden von den Medizintechnikverbänden nun pragmatische Lösungen. Hierzu zählen der Ausbau der Benannten Stellen und auch die bestmögliche Nutzung ihrer Ressourcen. Außerdem sollten Sonderregelungen für Nischenprodukte erarbeitet werden und pragmatischere Bewertungsansätze für bewährte Bestandsprodukte. Nicht zuletzt sollten alle Alt-Zertifikate für Medizinprodukte, die bis zum Stichtag 26. Mai 2024 nachweislich nicht zertifiziert werden können, unbürokratisch verlängert werden, um so die Verfügbarkeit dieser Produkte weiter zu gewährleisten.
Das erhofft sich auch der gesundheitspolitische Sprecher der FDP, Andrew Ullmann, von dem EU-Ratstreffen in Luxemburg. „Die Zertifizierung darf nicht der Grund sein, warum die Versorgung mit wichtigen Produkten gefährdet ist, die teils schon Jahrzehnte auf dem Markt und erprobt sind“, sagte er dem Handelsblatt. Zudem benötige die Industrie Klarheit darüber, wann die Benannten Stellen ausgebaut würden.
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