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14.05.2019

17:41

Nach einem EuGH-Urteil müssen zukünftig auch Arbeitsstunden im Homeoffice erfasst werden. Mint Images/REX

Zeiterfassung in Betrieben

Nach einem EuGH-Urteil müssen zukünftig auch Arbeitsstunden im Homeoffice erfasst werden.

EuGH-Urteil zur Zeiterfassung

Rückkehr der Stechuhr: Arbeitgeber fürchten zusätzliche Bürokratie

Von: Dana Heide, Frank Specht

Der Europäische Gerichtshof zwingt die Bundesregierung, die Arbeitszeiterfassung neu zu regeln. Das Urteil sei „wie aus der Zeit gefallen“, kritisieren Arbeitgeberverbände.

Berlin Stechuhr und Stempelkarte – in der digitalen Arbeitswelt klingt das nach Exponaten aus dem Industriemuseum. Doch wenn es nach dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) geht, dann hat die Ära der Vertrauensarbeitszeit bald ein Ende. Nach dem Urteil, das die Luxemburger Richter am Dienstag gefällt haben, sollen Arbeitgeber künftig verpflichtet werden, die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen.

In Deutschland gilt eine Aufzeichnungspflicht bisher nur für Geringverdiener nach dem Mindestlohngesetz und für die im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannten Branchen, wie zum Beispiel die Bauwirtschaft, das Gebäudereinigerhandwerk oder die Gastronomie.

Arbeitsrechtler sehen eine neue Bürokratiewelle auf die Wirtschaft zurollen: „Auch wenn dieses Urteil für Spanien erging, hat es erhebliche Folgen für Unternehmen auch in Deutschland“, sagte Cornelia Marquardt von der Kanzlei Norton Rose Fulbright in München. Entsprechend alarmiert zeigte sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA): „Die Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung wirkt wie aus der Zeit gefallen.“ Die Arbeitgeber seien gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert.

Mit dem Urteil und den daraus folgenden Aufzeichnungspflichten sei „die Vertrauensarbeitszeit praktisch tot“, kritisierte der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Oliver Zander. Dabei wünschten sich die Beschäftigten neue, flexible Arbeitsformen.

EuGH-Urteil: Pflicht zur Arbeitszeiterfassung – „Vertrauensarbeitszeit in bisheriger Form nicht mehr möglich“

EuGH-Urteil

Pflicht zur Arbeitszeiterfassung – „Vertrauensarbeitszeit in bisheriger Form nicht mehr möglich“

Unternehmen müssen die Arbeitszeiten der Mitarbeiter systematisch dokumentieren. Für Arbeitgeber ist das EuGH-Urteil ein Rückschlag: Sie befürchten ein untragbares Mehr an Bürokratie.

Dagegen begrüßte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), dass der EuGH „der Flatrate-Arbeit“ einen Riegel vorschiebe. Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach verwies auf die knapp 2,2 Milliarden Überstunden, die deutsche Arbeitnehmer laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im vergangenen Jahr geleistet haben.

Wenn die Arbeitszeiten der Beschäftigten nicht lückenlos erfasst würden, komme das „einem Lohn- und Zeitdiebstahl gleich“, sagte Buntenbach. Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau), Robert Feiger, sprach von einem „Meilenstein für die Stärkung fairer Arbeit“. In den vertretenen Branchen Bau, Gebäudereinigung und Agrar prangere die Gewerkschaft seit Jahren Lohndumping durch nicht bezahlte Arbeit an.

Den nationalen Gesetzgeber zwingt der Europäische Gerichtshof nun zum Handeln: „Die Aufzeichnung von Arbeitszeit ist notwendig, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern“, kommentierte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Entscheidung. „Es geht schließlich um Löhne und Arbeitnehmerrechte, das ist also auch keine überflüssige Bürokratie.“

Zwar sei eine endgültige Bewertung erst nach gründlicher Prüfung des Urteils möglich, hieß es aus dem Arbeitsministerium. Aber nach derzeitigen Informationen sei davon auszugehen, dass das Urteil Auswirkungen auf das deutsche Recht habe und eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes erforderlich sein werde.

Das Urteil des EuGH geht auf die Klage einer spanischen Gewerkschaft gegen die Deutsche Bank in Spanien zurück. Sie wollte den Arbeitgeber verpflichten, die täglich geleisteten Stunden ihrer Mitarbeiter aufzuzeichnen und so die Einhaltung der vorgesehenen Arbeitszeiten sicherzustellen.

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Die Klägerin berief sich dabei unter anderem auf eine EU-Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung. Diese verlangt von den Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, „damit nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer“ Arbeits-, Pausen- und Ruhezeiten eingehalten werden. Der Nationale Gerichtshof Spaniens hatte den Fall dem EuGH vorgelegt.

Für Deutschland ist der Luxemburger Richterspruch in zweierlei Hinsicht pikant: Zum einen gibt es seit Längerem eine Debatte über eine Anpassung des Arbeitszeitgesetzes an die digitale Arbeitswelt. Das geltende Recht sieht eine tägliche Höchstarbeitszeit von acht, im Ausnahmefall von zehn Stunden vor. Außerdem muss eine elfstündige Ruhezeit eingehalten werden.

Die Arbeitgeber halten das nicht mehr für zeitgemäß, etwa weil ein Beschäftigter, der sich nachmittags um seine Kinder kümmert und abends um elf Uhr dann noch eine Stunde nacharbeitet, theoretisch morgens um neun Uhr nicht wieder ins Büro kommen dürfte, ohne gegen die vorgeschriebene Ruhezeit zu verstoßen.

Die BDA fordert deshalb, die tägliche Höchstarbeitszeit auf eine wöchentliche Basis umzustellen. Die EU-Arbeitszeitrichtlinie sieht hier eine Höchstgrenze von 48 Stunden vor. Union und SPD hatten in ihrem Koalitionsvertrag zugesagt, tarifgebundenen Unternehmen über eine Öffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz Experimente mit flexibleren Arbeitszeiten zu ermöglichen.

Solche Bemühungen könnten konterkariert werden, wenn künftig Arbeitszeiten auch zu Hause lückenlos erfasst werden müssten, glaubt die Hamburger Arbeitsrechtlerin Claudia Knuth aus der Kanzlei Lutz Abel in Hamburg: „Das wird gerade im Homeoffice und bei der Mobilarbeit keine einfache Umsetzung.“

Zum anderen könnten neue Dokumentationspflichten, wie sie jetzt drohen, den Kampf gegen Papierkram in der Wirtschaft konterkarieren. So hatte die CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2017 noch den „Abbau unnötiger Bürokratie“ beim Mindestlohn versprochen – und zwar „gleich zu Beginn der neuen Wahlperiode“.

Dieser Passus hat es zwar so nicht in den Koalitionsvertrag geschafft. Dennoch hat die schwarz-rote Koalition einen Bürokratieabbau versprochen.

Das weiß auch Arbeitsminister Heil: Das EuGH-Urteil mache deutlich, dass „die derzeitigen Aufzeichnungspflichten von Arbeitszeiten in Mindestlohnbranchen rechtlich nicht verhandelbar“ seien, kommentierte er die Entscheidung. Dennoch werde es nun Zeit, die symbolischen Diskussionen hinter sich zu lassen und zu einem echten Bürokratieabbau zu kommen.

Dazu habe er der Union Vorschläge vorgelegt, die die Wirtschaft um etwa 1,3 Milliarden Euro jährlich entlasten würden, sagte Heil. Davon entfallen allein rund 1,2 Milliarden Euro auf die Umsetzung einer elektronischen Arbeitsunfähigkeitsmeldung, die der Minister vorgeschlagen hat. Bisher werden jährlich 77 Millionen Krankschreibungen von den Arbeitnehmern in Papierform vorgelegt, die die Firmen dann in ihre Personalverwaltungssysteme einpflegen müssen.

Den Koalitionspartner Union stellt Heil damit aber nicht zufrieden. Carsten Linnemann, Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT) erwartet vielmehr, dass die Regierung bei der Arbeitszeiterfassung nun nicht neue Bürokratie schafft: „Schon heute gibt es Unmengen an Dokumentationsvorschriften“, sagte er dem Handelsblatt. „Deutschland wird irgendwann in Bürokratie ersticken.“

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Gründer, Mittelständler und ihre Arbeitnehmer bräuchten für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und ehrenamtlichem Engagement „mehr Flexibilität statt mehr Stechuhr“. Die Bundesregierung sollte das aktuelle Urteil als Aufhänger nehmen, um endlich das Arbeitszeitrecht zu reformieren.

Der Arbeitgeberverband BDA versucht vorsorglich schon mal, seine Mitglieder vor neuer Bürokratie zu bewahren: „Auch künftig gilt: Der Arbeitgeber kann seine Arbeitnehmer verpflichten, die von ihnen geleistete Arbeit selbst aufzuzeichnen.“ Soll heißen: Der Gesetzgeber muss den Unternehmen nicht auferlegen, teure Zeiterfassungssysteme anzuschaffen.

Auch Arbeitsrechtler sehen nach dem Urteil der Luxemburger Richter durchaus wirtschaftsfreundliche Gestaltungsspielräume: „Es bleibt die Hoffnung, dass der Gesetzgeber den Strohhalm der Arbeitszeitflexibilisierung, den der EuGH anbietet, aufgreift“, sagte Marc André Gimmy, Leiter der Praxisgruppe Arbeitsrecht bei der Kanzlei Taylor Wessing.

So könnten etwa der Tätigkeitsbereich oder die Eigenheiten und sogar die Größe bestimmter Unternehmen berücksichtigt werden. „Hierfür kämen etwa Kleinbetriebsklauseln in Betracht, mit denen die Vielzahl der Klein- und mittelständischen Unternehmen vor den Kosten der Einführung von Zeiterfassungssystemen bewahrt werden können“, sagte Gimmy.

IG-Bau-Chef Feiger sprach sich für tarifvertragliche Lösungen aus: „Die Sozialpartner kennen sich am besten mit den Besonderheiten ihrer Branchen aus. Es sollte deshalb auch ihren Vereinbarungen überlassen bleiben, die Details der Arbeitszeiterfassung zu regeln“, sagte er.

Von den Oppositionsparteien kamen unterschiedliche Reaktionen auf das Urteil: „Jetzt ist es endlich amtlich: Arbeitszeit muss immer erfasst werden“, sagte die Sprecherin für Arbeitnehmerrechte der Grünen-Bundestagsfraktion, Beate Müller-Gemmeke. Das sei Voraussetzung dafür, dass Überstunden sichtbar würden und jede Stunde Arbeit auch tatsächlich bezahlt werde. „Gerade wenn es um Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice geht, zeigt der EuGH, er ist auf der Höhe der Zeit.“

Kritik übte die stellvertretende FDP-Vorsitzende und Spitzenkandidatin der Partei für die Europawahl, Nicola Beer. Mit dem Urteil werde „ein Bürokratiemonster entfesselt“, sagte sie dem Handelsblatt. Es stelle einen „Bärendienst sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber“ dar. New Work, Vertrauensarbeitszeit und mobiles Arbeiten seien gelebte Realität und würden in Zukunft immer wichtiger. „Wir brauchen mehr statt weniger Flexibilität und einen entsprechend praktikablen Rechtsrahmen“, forderte Beer.

Die Luxemburger Richter setzten jetzt die „Stechuhrmentalität“ um, weil es auf europäischer Ebene nicht gelungen sei, die Arbeitszeitrichtlinie den Anforderungen der modernen Arbeitswelt anzupassen. Die Schuld daran gibt Beer Konservativen und Sozialdemokraten: Nach der Europawahl werde die FDP versuchen, gemeinsam mit der liberalen Parteienfamilie Alde, anderen reformorientierten Kräften und neuen Mehrheiten diesen Stillstand zu überwinden.

Unterstützung erhielten die Kritiker einer weiter gehenden Arbeitszeiterfassung aus der Internetwirtschaft: „Insbesondere Start-ups arbeiten nicht nach der Stechuhr wie vor 100 Jahren“, sagte der Vorsitzende des Bundesverbands Deutsche Start-ups, Florian Nöll.

Manche Mitarbeiter etwa müssten ihre Kinder um 15 Uhr aus Kitas abholen, an anderen Tagen arbeiteten sie dafür länger. „Die Flexibilität, die Arbeitnehmer selbst einfordern, wird durch solche Vorgaben eingeschränkt.“ Zudem erhöhe die Vorgabe die Bürokratiebelastung für Unternehmen zusätzlich, kritisierte Nöll.

In Deutschland existiere der klassische Achtstundentag oft nur noch auf dem Papier, sagte auch der Präsident des IT-Verbands Bitkom, Achim Berg: „Viele Arbeitnehmer wollen flexibler arbeiten und fordern das aktiv ein.“ Die systematische Erfassung von Arbeitszeiten werde unzählige Arbeitnehmer und Arbeitgeber ins Unrecht setzen, kritisiert Berg. „Das EuGH-Urteil macht deutlich, dass unser Arbeitsrecht zwingend modernisiert und in das digitale Zeitalter überführt werden muss.

Arbeitsminister Heil wird sich jetzt mit der Union Gedanken über eine praktikable Lösung machen müssen: „Klar ist: Wir brauchen eine moderne und flexible Arbeitszeiterfassung, die den Ansprüchen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gerecht wird“, sagte der für Arbeit und Soziales zuständige Unionsfraktionsvize Hermann Gröhe (CDU) dem Handelsblatt. „Wir wollen eine faire Regelung, die keine unnütze neue Bürokratie bringt.“ Das Urteil sei ein guter Anlass, um die im Koalitionsvertrag vereinbarte Überprüfung des Arbeitszeitgesetzes vor dem Hintergrund der Digitalisierung anzugehen.

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