Die Politik sollte mit allen Mitteln versuchen, die Delta-Variante zu stoppen, sagen die Wissenschaftler. Es drohe die Wiederholung vergangener Fehler.
Reederei in Hamburg
Die Ausbreitung der Delta-Variante bringe ein relevantes neues Konjunkturrisiko, sie drohe die wirtschaftliche Erholung zu verzögern und abzuschwächen, so die Ökonomen.
Bild: imago images/Laci Perenyi
Berlin Die Warnung des Chefs des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, war eindringlich: „Das Virus macht keine Pause“, sagte er kürzlich, als Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn das Institut besuchten. „Es gönnt auch uns keine Pause.“
Die wieder steigenden Infektionszahlen in Deutschland und Europa treiben aber nicht nur Virologen und Intensivmediziner um, sondern auch Ökonomen. Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr, sagt: „Die Delta-Variante und weitere zu erwartende Varianten des Coronavirus stellen natürlich eine wirtschaftliche Bedrohung dar.“
Sie sorgten für Unsicherheit bei Investoren und Konsumenten, auch wenn nach heutigem Stand des Wissens wohl kein neuer harter Lockdown zu erwarten sei. Erst am Wochenende sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), für viele Geschäfte und Restaurants wäre eine neue Schließung „verheerend“. Man müsse und werde deshalb einen neuen Lockdown verhindern.
Dennoch sind Experten wie die Wirtschaftsweise Veronika Grimm besorgt. „Es zeichnen sich gerade wieder die gleichen Fehler ab wie im vergangenen Sommer durch die nachlässige Kontrolle der Urlaubsrückkehrer.“ Dabei seien konsequente Test- und Quarantänekonzepte essenziell.
Tatsächlich ist die Delta-Variante auf dem Vormarsch. In Deutschland entfallen darauf laut RKI mittlerweile mehr als 70 Prozent der Neuinfektionen. Ob die Impfkampagne den Vormarsch entscheidend stoppen kann, ist umstritten. Eine Impfquote von „70 Prozent und mehr“ müsse bis zum Herbst erreicht werden, um neue Corona-Maßnahmen zu verhindern, hieß es aus dem Gesundheitsministerium. Bislang sind aber nur etwas mehr als 45 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.
In anderen Ländern steigen die Neuinfektionszahlen trotz hoher Impfquote stark an. Die griechische Insel Mykonos und einzelne Regionen in Spanien haben wegen stark steigender Fallzahlen wieder eine Ausgangssperre verhängt.
Auch die Niederlande haben die Corona-Regeln wieder verschärft. Großbritannien hingegen hat am sogenannten „Freedom Day“ alle Maßnahmen aufgehoben. Hier lag die Sieben-Tage-Inzidenz am Montag bei 465. Der Wert gibt an, wie viele Personen sich pro 100.000 Einwohnern innerhalb einer Woche neu angesteckt haben.
Auch in Deutschland steigt die Inzidenz seit mehr als einer Woche wieder an und liegt nun bei 10,3. Die Inzidenz war in der Pandemie bisher Grundlage für viele Corona-Einschränkungen, etwa im Rahmen der Ende Juni ausgelaufenen Bundesnotbremse. Künftig sollen daneben nun weitere Werte wie Krankenhauseinweisungen stärker berücksichtigt werden.
„Wie sehr die Ausbreitung der Delta-Variante den Aufschwung in Europa gefährdet, wird entscheidend davon abhängen, ob die Impfungen vor dieser Variante schützen und ob sie vor allem schwere Erkrankungen verhindern“, sagt Ifo-Präsident Clemens Fuest. Und ob sich überhaupt ausreichend Menschen impfen lassen. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger wird deshalb nicht müde, seinen Impfappell zu wiederholen, den er gemeinsam mit DGB-Chef Reiner Hoffmann abgegeben hatte.
In den Konjunkturprognosen spiegeln sich die neuen Entwicklungen und die steigenden Fallzahlen bisher nicht wider. Die meisten Institute haben schon unter dem Eindruck des bis März geltenden Lockdowns und der anfangs schleppenden Impfkampagne ihre Erwartungen heruntergeschraubt.
Das Ifo-Institut beispielsweise senkte seine Wachstumsprognose für das laufende Jahr von anfänglich 4,2 auf 3,3 Prozent. Der Sachverständigenrat der „Wirtschaftsweisen“ erwartet sogar nur ein Plus von 3,1 Prozent.
Noch pessimistischer ist das Handelsblatt Research Institute (HRI), das in seiner Ende Juni vorgelegten Konjunkturprognose ein Wachstum von 2,7 Prozent im laufenden und 3,7 Prozent im kommenden Jahr erwartet.
Gegen einen Konjunkturboom sprechen nach Einschätzung der HRI-Experten die Virusmutationen, Probleme bei Impfstofflieferanten und der -entwicklung, die Knappheit bei Materialien und Vorprodukten sowie Engpässe in Chinas Megahafen Yantian und anderen Häfen.
Zur Vorsicht mahnt auch der Chef des gewerkschaftsnahen Forschungsinstituts IMK, Sebastian Dullien. Die Ausbreitung der Delta-Variante bringe ein relevantes neues Konjunkturrisiko, sie drohe die wirtschaftliche Erholung zu verzögern und abzuschwächen. „Erstens dürften die wieder ansteigenden Infektionszahlen dazu führen, dass sich einige Konsumenten bei den kontaktintensiven Dienstleistungen weiter zurückhalten“, sagt Dullien.
Zweitens könnten neue Kontaktbeschränkungen erneut einzelne Branchen belasten. Und schließlich sorgten allein die Nachrichten über die Delta-Welle für neue Unsicherheit, gerade in dem Moment, wo eigentlich Hoffnung bestanden habe, dass die Pandemie zumindest in Europa überwunden ist. „Dies könnte den ein oder anderen Unternehmer doch noch zum Aufgeben bewegen“, warnt Dullien.
Bisher hatte sich die Zahl der Insolvenzen noch in engen Grenzen gehalten, auch durch die bis Ende 2020 ausgesetzte Insolvenzantragspflicht für überschuldete Unternehmen. Laut Statistischem Bundesamt spiegelt sich die Wiedereinsetzung bisher noch nicht in den Insolvenzdaten für das erste Quartal wider. Von Januar bis März stellten 3762 Unternehmen einen Insolvenzantrag, fast ein Fünftel weniger als im Vorjahreszeitraum.
Trotzdem mahnen führende Ökonomen zu Wachsamkeit – und sehen dringenden Handlungsbedarf, um nicht in eine vierte Welle hineinzulaufen. Wirtschaftsweise Grimm fordert: „Gerade bei niedrigen Inzidenzen sollte das Testen in Schulen, nach Reisen und bei Veranstaltungen und auch für Ungeimpfte im Betrieb zur Routine werden, um schnell auf eine mögliche neue Dynamik des Infektionsgeschehens reagieren zu können.“
Wirtschaftsweise Veronika Grimm
„Es zeichnen sich gerade wieder die gleichen Fehler ab wie im vergangenen Sommer.“
Bild: dpa
Dies sei eine Voraussetzung, um die Schulen offenhalten und weitere Schließungen und damit Bildungsrückstände verhindern zu können. Zum Zweiten könnten Virusvarianten auftauchen, gegen die die Impfstoffe nicht ausreichend schützen. „Es wäre katastrophal, diese Situation erst mit einer Verzögerung zu erkennen“, warnt die Wirtschaftsweise.
Denn dann wären wieder Einschränkungen zu erwarten, die mit den bekannten Gesundheitsrisiken sowie sozialen Härten einhergehen und auch die wirtschaftliche Erholung ausbremsen würden.
Die Politik sollte alles daransetzen, ein weiteres Hochlaufen der Infektionszahlen in Deutschland zu vermeiden, insbesondere, indem weitere Lockerungsschritte nur sehr vorsichtig vorgenommen werden, sagt Dullien: „Eine leichte Verzögerung der Lockerungen ist wirtschaftlich wesentlich weniger schädlich als das Risiko neuer Lockdowns später im Jahr.“ Gleichzeitig sollte alles getan werden, das Impftempo wieder zu erhöhen, das zuletzt bedenklich nachgelassen habe.
IfW-Chef Gabriel Felbermayr
„Die Delta-Variante und weitere zu erwartende Varianten des Coronavirus stellen natürlich eine wirtschaftliche Bedrohung dar.“
Bild: imago images/Jürgen Heinrich
IfW-Chef Felbermayr richtet den Blick aber auch ins Ausland: „Selbst wenn Deutschland gut durch eine vierte Welle kommt, muss das bei wichtigen Handelspartnern längst nicht der Fall sein.“ Vor allem Schwellen- und Entwicklungsländer, die beim Impfen erst am Anfang stehen, könnten in Turbulenzen geraten, warnt Felbermayr.
Und auch punktuelle Corona-bedingte Quarantänemaßnahmen wie vor Kurzem erst in einem chinesischen Hafen stellten für deutsche Lieferketten schnell eine erhebliche Herausforderung dar.
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