Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, fordert, das Prinzip der Nachhaltigkeit in das Grundgesetz aufzunehmen.
Hans-Jürgen Papier
Papier sorgt sich um eine schleichende Veränderung des Rentensystems.
Bild: Thorsten Jochim für Handelsblatt
Berlin Berlin Als „Fehler im System“ ließe sich der Umstand beschreiben, dass die Politik nur die aktuellen Wähler in den Blick nimmt und große Probleme gerne in die fernere Zukunft verschiebt. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, setzt sich darum dafür ein, dass das Nachhaltigkeitsprinzip in das Grundgesetz kommt.
Die Aufgabe der „nachhaltigen, dauerhaften Befriedigung von Gemeinschaftsinteressen“ habe „nicht nur eine ökologische und finanzpolitische, sondern vor allem auch eine sozialpolitische Dimension“, heißt es in einem entsprechenden Konzept von Papier. Der Gesetzgeber müsse die Interessen kommender Generationen stärker beachten. Mit Aufnahme der Schuldenbremse und dem Schutz natürlicher Lebensgrundlagen in das Grundgesetz sei bereits ein wichtiger Schritt in diese Richtung gemacht. Das reiche allerdings nicht.
Tatsächlich gibt es schon länger Bestrebungen, die Generationengerechtigkeit zu forcieren. So berief etwa Gerhard Schröder als Bundeskanzler 2001 erstmals den Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE), der schon bald die Forderung erhob, Nachhaltigkeit als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. 2006 gab es einen entsprechenden fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf. Zu den Unterzeichnern gehörte auch der damals 26-jährige Jens Spahn (CDU), der heute Bundesgesundheitsminister ist.
Papier selbst hatte dann 2016 bei einer öffentlichen Anhörung vor dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung des Bundestages angemahnt, dass eine Klarstellung und Konkretisierung des Grundgesetzes in Sachen Nachhaltigkeit überfällig sei. Passiert ist bislang dennoch nichts.
Nun will Papier also einen neuen Anlauf nehmen. Er rügt, es heiße derzeit zwar oft, etwas sei „unverantwortlich“ gegenüber kommenden Generationen. Aber daraus folge nichts. Mit der Aufnahme des Nachhaltigkeitsprinzips im Grundgesetz wäre das „Unverantwortliche“ nicht nur eine moralisch-politische Frage, sondern auch eine rechtlich relevante.
Doch was wären die praktischen Auswirkungen eines solchen Nachhaltigkeits-Passus im Grundgesetz? Professor Papier erklärt dies am Beispiel des Rentenkonzepts von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD): „Wenn wir das Nachhaltigkeitsprinzip im Grundgesetz hätten, müsste etwa die Begründung für ein Gesetz, mit dem das Rentenniveau bis 2040 gesichert werden soll, sich auch dazu verhalten, wie das finanziert wird.“
Es wäre demnach noch nicht unbedingt ein Verfassungsverstoß, wenn der Gesetzgeber die Rente langfristig in eine überwiegend steuerfinanzierte Sozialleistung übergehen ließe. Aber die Auswirkungen auf das Gesamtsystem der Alterssicherung und auf die künftige Generation müssten dann bedacht und transparent gemacht werden. „Der politische Erfolg wäre mehr Rationalität und Transparenz von Gesetzgebung und weniger Populismus“, betonte Papier.
Die von der Sozialversicherung gezahlte Rente droht laut Papier derzeit schleichend einen Weg zu gehen, der sie aus dem vom Bundesverfassungsgericht in den 1980er Jahren zugebilligten Schutz des Eigentums herausführen könne. „Das beunruhigt mich als Verfassungsrechtler seit Jahren“, bekennt Papier. Bislang hieß es, die beitragsfinanzierte Sozialrente sei die ökonomische Daseinsgrundlage und deswegen Eigentum des Großteils der Bevölkerung, keine einseitige Sozialleistung des Staates, sondern Versicherungsleistung, da grundsätzlich durch Beiträge finanziert.
„Wenn es um überwiegend steuerfinanzierte Leistungen geht, dann lässt sich nicht mehr von Eigentum sprechen, sondern von einseitiger staatliche Gewährung“ betonte Papier. Sprich: von staatlicher Fürsorge. Die müsste es dann aber auch für alle geben, nicht nur für die Gruppe der jetzt Beitragspflichtigen. „Es wäre dann auch eine Leistung nach öffentlicher Kassenlage“, gibt Papier zu bedenken. Doch was sei, wenn die Steuereinnahmen nicht mehr sprudelten?
„Derzeit finden sich, anders als etwa bei der Finanzverfassung, im Grundgesetz keinerlei Vorgaben über den immens wichtigen Sektor der sozialen Sicherung“, erklärte Papier. Es gebe keinerlei Festlegungen, ob etwa die Alterssicherung nach wie vor auf dem Prinzip der Sozialversicherung beruhen sollte oder ob und wie umgeschwenkt werden könne auf eine steuerfinanzierte Sozialleistung.
„Hier könnte die Verfassung mit einem Nachhaltigkeitsprinzip gewisse Leitlinien für die künftige politische und gesetzliche Gestaltung unserer Sozialordnung vorgeben, ohne ein spezifisches Ergebnis festzulegen“, sagte Papier.
Bleiben Befürchtungen, mit dem Nachhaltigkeitsprinzip im Grundgesetz käme es zu einer Verrechtlichung der Politik ohne jeden Gestaltungsspielraum. Dem tritt Papier entschieden entgegen: „Es gibt immer Schwierigkeiten, Grenzen zu ziehen.“ Das kenne er aus seiner zwölfjährigen Tätigkeit beim Bundesverfassungsgericht. „Von einer Staatszielbestimmung geht nie die Forderung eines ganz konkreten Ergebnisses der Gesetzgebung aus.“
Dass ein solches Staatsziel als reine „Verfassungslyrik“ abgetan werden könne, glaubt Papier auch nicht: „Das Sozialstaatsprinzip ist auch nicht zu einem zahnlosen Tiger geworden.“ Es habe durchaus Bedeutung, etwa bei der Frage, ob ein gesetzgeberischer Eingriff in die Tarifautonomie legitimiert sein könne.
Die RNE-Vorsitzende Marlehn Thieme sieht ebenfalls, dass die Staatsziel-Diskussion eine neue Aktualität gewinnt. Sie verweist etwa auf die aktuellen Bemühungen der Bundesregierung, die beim Uno-Nachhaltigkeitsgipfel verabschiedete Agenda 2030 umzusetzen. Sie umfasst 17 globale Nachhaltigkeitsziele. „Um diese Ziele national und international zu erreichen, bedarf es einer neuen Entschlossenheit aller gesellschaftlichen Akteure und allen voran der Bundesregierung“, sagte Thieme.
Die vom RNE schon seit Jahren geforderte Aufnahme von Nachhaltigkeit ins Grundgesetz wäre demnach jetzt sehr hilfreich, um alle politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen konsequent an den Uno-Nachhaltigkeitszielen auszurichten. „Das gilt im Übrigen auch für die Automobilindustrie“, betonte die RNE-Vorsitzende. Für die internationale Gemeinschaft könne die Aufnahme von Nachhaltigkeit als Staatsziel in Deutschland ein wichtiges Signal sein.
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