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28.09.2022

17:32

Gesundheit

20 Prozent der Kliniken droht die Pleite: Lauterbach will die Krankenhaus-Landschaft retten

Von: Jürgen Klöckner

Der Gesundheitsminister muss ein krankes System im laufenden Betrieb reformieren. Die Widerstände sind gewaltig. Der SPD-Mann setzt auf eine Taktik, auf die schon Jens Spahn vertraute.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) IMAGO/photothek

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im Hadassah Medical Center

Auf dem Programm von Karl Lauterbach, der bis Dienstag auf Reise ist, stehen unter anderem auch Treffen mit israelischen Start-ups, Forschern und Krankenkassen.

Berlin Wie die Kliniklandschaft der Zukunft aussieht, konnte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kürzlich selbst erleben. Im Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem zog er sich einen blauen Umhang über und streifte durch die Gänge der Intensivstation im vierten Untergeschoss.

13 OP-Säle für 27.000 Operationen pro Jahr gibt es hier, alle ausgestattet mit modernster Technik – beispielsweise einem Roboter für chirurgische Eingriffe, der aus der Ferne bedient werden kann. „Wir sind hier in Israel, um zu lernen“, sagte Lauterbach.

Mit einer Krankenhausreform will der Bundesgesundheitsminister die deutsche Kliniklandschaft neu aufstellen. Es ist eine Mammutaufgabe. Die letzte groß angelegte Reform liegt 20 Jahre zurück. Das System mit den rund 1900 Kliniken und ihren über 400.000 Beschäftigten gilt als teuer, marode und ineffizient.

Neben diesen strukturellen Problemen kämpfen Kliniken mit externen Schocks wie der Corona- und nun der Energiekrise. 60 Prozent der Einrichtungen stecken laut Krankenhaus-Rating-Report des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung RWI und dem Institute for Healthcare Business tief in den roten Zahlen, 20 Prozent sind gar insolvenzgefährdet.

Lauterbachs Reform wird deswegen zum Großmanöver. Man muss sich das Vorhaben wie eine Operation am offenen Herzen vorstellen. Es geht um die Frage, wie man ein System im laufenden Betrieb reformieren will. Hinzu kommt ein Geflecht an mächtigen Interessenverbänden, die alle mitreden wollen. Lauterbach muss mit heftigen Widerständen rechnen.

Deutlich wurde dies zuletzt am Dienstag, als Lauterbach erste Ergebnisse der Krankenhauskommission übergeben wurden, die für den Minister Reformvorschläge erarbeitet. „Wir betreiben viel zu viele Betten und haben viel zu viele stationäre Aufnahmen“, sagte Lauterbach, zurück in Berlin, im Atrium seines Ministeriums während einer Pressekonferenz.

Tom Bschor, Leiter der "Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung", übergibt Karl Lauterbach die Empfehlungen der Kommission zum Thema Tagesbehandlung im Krankenhaus. dpa

Tom Bschor und Karl Lauterbach

Tom Bschor, Leiter der "Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung", übergibt Karl Lauterbach die Empfehlungen der Kommission zum Thema Tagesbehandlung im Krankenhaus.

Der Vorschlag, den die Krankenhauskommission Lauterbach deswegen unterbreitete, klingt auf den ersten Blick unspektakulär. Unnötige Übernachtungen bei Klinikuntersuchungen sollen demnach künftig wegfallen können. Dazu werde es eine gesetzliche Neuregelung geben, kündigte Lauterbach an.

Beispielsweise kämen Krebspatienten oft für vier oder fünf Tage zu speziellen Untersuchungen und Behandlungen in die Klinik. „Aber eigentlich muss man in dieser Zeit gar nicht nachts im Krankenhaus bleiben“, so der Minister. Behandlungen mit eigentlich unnötigen Übernachtungen seien nicht selten, sondern seit Langem ein zentrales Problem. Die Reform werde schnell helfen und würde keine zusätzlichen Kosten verursachen, sondern möglicherweise sogar einsparen.

Die Kritik aus der Gesundheitsbranche ließ nicht lange auf sich warten. Dort fühlt man sich ohnehin übergangen, da die Interessenverbände nicht Teil der Krankenhauskommission sind. Sie können also immer erst Kritik loswerden, wenn der Vorschlag schon in der Welt ist.

Gehirnchirurg Peter Vajkoczy im Interview über Fachkräftemangel

Ein „großer Wurf sieht anders aus“, ätzte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, am Mittwoch. Die Vorsitzende des AOK-Bundesverbands, Carola Reimann, sagte, durch das Vorhaben drohten „neue, zusätzliche Ausgaben im Milliardenbereich, ohne dass die Beitragszahler dafür einen Mehrwert bekommen“.

Der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, sagte hingegen, dass die Vorschläge für mehr ambulante Behandlungen in die richtige Richtung gingen und das Personal entlasten könnten. „Problematisch ist, dass die Regierungskommission ohne Einbezug von Praktikern arbeitet.“ Das müsse sich dringend ändern.

Lauterbach will sich davon nicht beeindrucken lassen. Sein Haus sei „sehr resilient, was Lobbydruck angeht“, sagte er bei der Vorstellung der Vorschläge. Es gehe „immer weiter“. Er hat dafür eine interessante Strategie gewählt, nämlich eine Reform der Minischritte.

Krankenhausreform in Minischritten

So hielt es auch sein Vorgänger Jens Spahn (CDU) mit der Digitalisierung. Statt ein großes Gesetz zu schreiben, das lange braucht, schrieb Spahn im Akkord ein Gesetz nach dem anderen, um einzelne Digitalisierungsprojekte wie das elektronische Rezept, die elektronische Patientenakte und die App auf Rezept auf den Weg zu bringen.

„Nirgends zeigen sich die Versäumnisse der vergangenen 30 Jahre im Gesundheitswesen so deutlich wie in der Kliniklandschaft.“ Jochen Werner, Chef der Uniklinik Essen

Auch Lauterbach geht diese Minischritte, um das System an unterschiedlichen Stellen zu kitten. Ein Milliarden-Energiepaket soll den Kliniken helfen, die höheren Strom- und Gaspreise zu stemmen. Kinderkliniken, von denen es immer weniger gibt, sollen aus dem System der Fallpauschale herausgenommen werden, um besser finanziert zu sein.

Und ein neues Instrument für die Personalbemessung soll dazu führen, dass Kliniken künftig so viele Pflegekräfte beschäftigen müssen, wie tatsächlich benötigt werden. Krankenhäuser, die die Vorgaben nicht erfüllen, müssen ab dem Jahr 2025 mit Sanktionen rechnen.

Lauterbach wirbelt vieles auf, was sehr genau in den Kliniken vernommen wird. „Nirgends zeigen sich die Versäumnisse der vergangenen 30 Jahre im Gesundheitswesen so deutlich wie in der Kliniklandschaft“, sagt etwa der Chef der Uniklinik Essen, Jochen Werner, dem Handelsblatt. „Es ist nervtötend.“

Hinter den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen liegt ein monatelanger Streik, der nun mit einem neuen Tarifvertrag beigelegt wurde. Für das Uniklinikum Essen bedeutet er, dass 300 neue Pflegekräfte eingestellt werden müssen. Derzeit sind es 2000.

„Das ist nicht einfach“, sagt Werner. Der neue Tarifvertrag nehme zwar die von Lauterbach geplante neue Personalbemessung vorweg. Möglicherweise müsse er aber Pflegekräfte von anderen Einrichtungen abwerben. „Das wird also Löcher an anderer Stelle reißen, bis hin zur ohnehin schlecht besetzen Altenpflege“, sagt er. „Engpässe werden also nur verlagert, wenn wir nicht endlich Strukturen verändern.“

Kürzlich veröffentlichte Werner ein Buch mit dem Titel „So krank ist unser Krankenhaus“, in dem er die Strukturprobleme bis ins Detail seziert. Man wisse beispielsweise seit Jahrzehnten, dass es zu viele Kliniken gebe. Die Folge sei der Pflegemangel, zudem belasteten Krankenhäuser die Umwelt erheblich.

„Auch deshalb ist es wichtig, das Zuviel an Krankenhäusern zu schließen“, sagt er. Laut einer Studie aus dem Jahr 2020 könnte jedes dritte Krankenhaus schließen, um den Bedarf mit den vorhandenen Standorten zu decken.

In seinem Buch „So krank ist unser Krankenhaus“ untersucht der Mediziner die Probleme der deutschen Krankenhausstruktur. imago images/STAR-MEDIA

Jochen Werner, Chef der Uniklinik Essen

In seinem Buch „So krank ist unser Krankenhaus“ untersucht der Mediziner die Probleme der deutschen Krankenhausstruktur.

Das Thema aber ist heikel, da das Schließen ganzer Standorte der Bevölkerung schwer zu vermitteln ist. Zudem sind dafür die Bundesländer zuständig. Nordrhein-Westfalen hat kürzlich ein Konzept vorgestellt, andere wiederum lassen das Thema komplett schleifen. Ein Bundesplan aber fehlt. Es brauche den Mut, „wirklich etwas zu ändern“, sagt Werner.

Der Mann, der diesen Mut aufbringen muss, ist Tom Bschor. Er leitet die Krankenhauskommission von Lauterbach und ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit Mitte Mai hat sich die Kommission bereits 30-mal getroffen, meist per Video, was ein beachtliches Pensum für ein solches Gremium ist.

Die Hoffnung ist, dass dabei auch ein Plan entsteht, wo welche Kliniken in Deutschland gebraucht werden – und wo nicht. Wer die Reaktionen auf die jüngsten Reformvorschläge von Lauterbach noch in Erinnerung hat, kann sich denken, was im Land bei Klinikschließungen los wäre.

Kliniken schließen – eine schwierige Mission

Die Aufgabe sei allerdings nicht, zu ermitteln, wie viele Kliniken geschlossen werden müssten, sagt Bschor. „Unser Ziel ist, zu sagen, wie viele Kapazitäten gebraucht werden in den einzelnen Disziplinen.“ In der Diskussion ist, dafür bestimmte Bezugsgrößen wie Demografie oder Sozialstruktur heranzuziehen.

Bei der Pädiatrie beispielsweise sei nicht die Gesamtzahl der Bevölkerung entscheidend, sondern die Zahl der Kinder. Eine Kardiologie oder eine Stroke-Unit für Schlaganfallpatienten sei eher für die ältere Bevölkerung relevant. Eine Unfallchirurgie wiederum bräuchten eher jüngere Menschen.

Mitarbeiter im Thüringer Krankenhäusern demonstrieren für höhere Löhne, die Unikliniken in NRW kommen erst aus einem langen Streik dieses Jahr. dpa

Kundgebung "Alarmstufe Rot: Krankenhäuser in Gefahr!"

Mitarbeiter im Thüringer Krankenhäusern demonstrieren für höhere Löhne, die Unikliniken in NRW kommen erst aus einem langen Streik dieses Jahr.

Derzeit ist es so, dass in manchen ländlichen Regionen das Angebot zurückgeht, während sich andernorts teils eine Klinik an die andere reiht. Hinzu kommen gewaltige Fehlanreize. Kleine Kliniken bieten beispielsweise Behandlungen an, um Einnahmen zu erzielen, ohne auf die relevanten Fallzahlen und die Qualität zu kommen.

Das ist ein Problem, da in Kliniken mit hohen Fallzahlen Patienten seltener sterben. Bei einem Herzinfarkt sind es 31 Prozent weniger, bei Bauchspeicheldrüsenkrebs gar 54 Prozent. Im Schnitt wird in Deutschland derzeit mehr als jeder zweite Krebspatient nicht in spezialisierten Zentren behandelt.

Im Koalitionsvertrag haben die regierenden Parteien deswegen unter anderem vereinbart, die Krankenhausplanung nach klaren Kriterien wie dem tatsächlichen Bedarf und der Erreichbarkeit auszurichten. Auf dem Land bekämen kleinere Kliniken Vorhaltepauschalen für den Grundbedarf, während aufwendige Eingriffe in Zentren vorgenommen würden.

Bschor muss diese Wünsche umsetzen. Die absehbaren Widerstände, beispielsweise aus den Ländern, hat Bschor dabei offenbar im Blick.

„Eine vorstellbare Variante ist, dass die Kommission oder der Bund den Ländern diese Messgrößen empfiehlt und diese dann entscheiden müssen, welche Krankenhäuser oder Abteilungen vergrößert, verkleinert oder möglicherweise ganz geschlossen werden müssen“, sagt Bschor. „Auch finanzielle Anreize sind denkbar.“

Er sieht jetzt die Chance für „grundsätzliche Reformen“. Mit „ein paar Reförmchen“ sei nicht viel zu gewinnen.

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