Der Tarifstreit in der Metall- und Elektroindustrie ist beigelegt. Vorgesehen sind zwei Lohnsteigerungen im Juni 2023 und noch mal im Mai 2024.
Warnstreik der IG Metall
Die Gewerkschaft hatte für den Fall des Scheiterns der Tarifgespräche mit einer Ausweitung des Arbeitskampfs gedroht.
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Berlin Im Tarifkonflikt für die 3,9 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie gibt es eine Einigung. Vorgesehen sind Lohnsteigerungen von 5,2 Prozent zum Juni 2023 und noch mal 3,3 Prozent ab Mai 2024 bei einer Laufzeit von 24 Monaten, wie die Gewerkschaft IG Metall und der Arbeitgeberverband Südwestmetall am frühen Freitagmorgen in Ludwigsburg mitteilten. Dazu kommen steuerfreie Einmalzahlungen von insgesamt 3000 Euro. Das Ergebnis gilt als Pilotabschluss, der im Kern auch in anderen Bezirken umgesetzt werden soll.
IG-Metall-Bezirksleiter Roman Zitzelberger sagte nach den zwölfstündigen Verhandlungen: „Wir haben hart gerungen und verhandelt, am Ende liegt aber ein akzeptabler Kompromiss auf dem Tisch. Die Kolleginnen und Kollegen bekommen nun endlich die dauerhafte prozentuale Entgelterhöhung, die ihnen zusteht.“
Südwestmetall-Verhandlungsführer Harald Marquardt sprach von einem aus seiner Sicht „schmerzhaften Kompromiss“, der nur tragbar sei, weil mit der langen Laufzeit Planungssicherheit für die Betriebe bestehe. Außerdem sei eine automatische Differenzierung für Firmen in Not enthalten.
So können Unternehmen das bereits 2018 vereinbarte sogenannte Tarifliche Zusatzgeld (T-Zug), das jährlich gezahlt wird, im nächsten und im übernächsten verschieben, kürzen oder streichen. Voraussetzung ist, dass ihre Nettoumsatzrendite unter 2,3 Prozent liegt. Das Zusatzgeld steigt allerdings von derzeit rund 400 auf 600 Euro.
Vor allem könnten die Arbeitgeber aber steuern, in welchem Kalenderjahr sie die Inflationsausgleichsprämie von insgesamt 3000 Euro auszahlen wollen, betonte Marquardt. „Damit schaffen wir einen sehr großen Hebel bei der Variabilität der Kosten und tragen den unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnissen Rechnung.“
Vorgesehen ist, dass die Inflationsprämie in zwei Tranchen à 1500 Euro jeweils bis zum 1. März 2023 und 1. März 2024 gezahlt wird. Arbeitgeber können aber von sich aus entscheiden, sie vorzuziehen, beispielsweise noch ins laufende Jahr, oder – gemeinsam mit dem Betriebsrat – sie aufzuschieben. Mindestens 750 Euro müssen aber in jedem Fall im Januar 2023 ausgezahlt werden.
Verhandlungsführer Roman Zitzelsberger (IG Metall, l.) und Harald Marquardt (Südwestmetall)
Einigung nach einer langen Nacht.
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Die Kostenbelastung für die Unternehmen lässt sich schwer beziffern, da die üblichen Verfahren auf Bruttorechnungen beruhen, die Inflationsprämie aber steuer- und abgabenfrei gezahlt wird. Näherungsweise macht Südwestmetall die folgende Modellrechnung auf: Zahlt ein Betrieb die erste Tranche der Inflationsprämie noch im Dezember, bedeutet der Abschluss für dieses Jahr eine Kostensteigerung von knapp drei Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Im kommenden Jahr läge die Belastung bei 3,5 Prozent, wenn das Unternehmen die erste Stufe der Prozenterhöhung zahlt und die 2024 fällige zweite Tranche der Inflationsprämie wiederum vorzieht. 2024 stiegen die Kosten dann bis zum Laufzeitende Ende September noch einmal um knapp zwei Prozent. Durch die Differenzierungsmöglichkeiten können sich Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten etwa einen Prozentpunkt der Kostenbelastung sparen.
Die IG Metall war mit der Forderung nach acht Prozent mehr Geld bei einer Laufzeit von zwölf Monaten in die Verhandlungen gegangen, die auf regionaler Ebene im September begonnen hatten. Dabei hatte sie in den zurückliegenden Runden deutlich gemacht, dass ein Abschluss ohne Tabellenerhöhung, also ohne dauerhaft wirkende Prozenterhöhung der Löhne und Gehälter, mit ihr nicht zu machen sei.
Die IG Metall verwies dabei auf die hohe Inflation, die im Oktober mit 10,4 Prozent auf den höchsten Stand seit 1951 gestiegen war. Seit dem Auslaufen der Friedenspflicht am 29. Oktober beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben mehr als 774.000 Beschäftigte an Warnstreiks, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Für den Fall eines Scheiterns der Verhandlungen hatte die Gewerkschaft mit einer Ausweitung des Arbeitskampfes durch sogenannte 24-Stunden-Streiks oder eine Urabstimmung über Erzwingungsstreiks gedroht.
Es sei „in einer äußerst herausfordernden Zeit gelungen, die Beschäftigten spürbar zu entlasten, Einkommen nachhaltig zu stabilisieren und die Kaufkraft zu stärken“, lobte IG-Metall-Chef Jörg Hofmann den Kompromiss. Mit dem Tarifergebnis stütze die Metall- und Elektroindustrie auch die Konjunktur in Deutschland.
Die Arbeitgeber hatten in den Verhandlungen dagegen darauf hingewiesen, dass Deutschland im kommenden Jahr auf eine Rezession zusteuere und es deshalb wenig Verteilungsspielraum gebe.
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Außerdem dürften die guten Ergebnisse von Konzernen wie Siemens, der am Donnerstag einen operativen Rekordgewinn vermeldet hatte, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lage der Metall- und Elektroindustrie insgesamt sehr heterogen sei.
Gerade viele kleine und mittelständische Betriebe fürchteten angesichts der stark gestiegenen Energiepreise um ihre Existenz. Außerdem würden angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheit oder Lieferschwierigkeiten viele Aufträge storniert. Wie zur Bestätigung hatte das Statistische Bundesamt am Donnerstag gemeldet, dass das Auftragspolster der deutschen Industrie erstmals seit den Anfängen der Coronapandemie wieder gesunken ist.
Die Arbeitgeber hatten zunächst nur eine Inflationsprämie in Höhe von 3000 Euro in Aussicht gestellt und angeboten, auch über eine dauerhafte Prozenterhöhung zu reden, wenn die Gewerkschaft sich auf eine lange Laufzeit von 30 Monaten einlasse.
Außerdem forderten sie eine automatische Differenzierung im Tarifvertrag, also die Möglichkeit für die Unternehmen, bei Unterschreitung bestimmter betriebswirtschaftlicher Kennzahlen einzelne Tarifbestandteile erst verzögert oder gar nicht zu zahlen, ohne dass die Gewerkschaft zustimmen muss.
Außerdem hatte der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Stefan Wolf, darauf gepocht, dass ein mögliches Tarifergebnis neu bewertet werden müsse, falls es in Deutschland doch noch zu einer Gasmangellage komme und Betriebe deshalb ihre Produktion massiv einschränken oder gar stoppen müssen.
Die Tarifparteien haben sich nun auf einen Prozess verständigt, der sicherstellt, schnell auf eine solche Energienotlage reagieren zu können. Wolf nannte den Tarifabschluss einen „Vorschuss auf hoffentlich bessere Zeiten“.
Das Ergebnis bedeute eine große Belastung für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung der Branche. Ein Arbeitskampf hätte aber noch größeren Schaden angerichtet und wäre ein fatales Signal für den Standort gewesen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Freitagnachmittag ausdrücklich begrüßt, dass der Tarifabschluss eine steuer- und abgabenfreie Zahlung von 3000 Euro vorsieht. Normalerweise kommentiere die Regierung keine Tarifabschlüsse, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Freitag in Berlin auf Nachfrage.
Der Kanzler bewerte aber sehr positiv, dass der Tarifabschluss von der möglichen Einmalzahlung Gebrauch mache, fügte er hinzu. Dass diese von der Regierung geschaffene Möglichkeit nun genutzt werde, ziehe sich nun durch mehrere Tarifabschlüsse hindurch. "Das ist eine gute Entwicklung", sagte Hebestreit. Auf die Frage, ob der erste Teil der steuerfreien Zahlung im März 2023 nicht sehr spät komme, betonte er: "Der Kanzler kann damit gut leben."
Der Druck, auch in der Metall- und Elektroindustrie zu einer Einigung zu kommen, war durch den Tarifabschluss in der chemisch-pharmazeutischen Industrie gewachsen. Dort hatten sich die Gewerkschaft IG BCE und der Arbeitgeberverband BAVC Mitte Oktober darauf geeinigt, dass die Löhne und Gehälter in zwei Stufen um insgesamt 6,5 Prozent steigen.
Darüber hinaus zahlen die Unternehmen jene 3000 Euro Inflationsprämie, die die Bundesregierung von Steuern und Abgaben befreien will. Die Auszahlung erfolgt in zwei Tranchen von je 1500 Euro. Der Chemie-Tarifabschluss hat eine Laufzeit von 20 Monaten bis Ende Juni 2024.
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Nach dem Metall-Pilotabschluss in Baden-Württemberg wird nun in den anderen Tarifbezirken weiterverhandelt, ob das Ergebnis übernommen wird. Dies ist aber in der Regel der Fall, zuweilen mit leichten regionalen Abweichungen.
Der Hauptgeschäftsführer des bayerischen Metallarbeitgeberverbands VBM, Bertram Brossardt, sprach von einem Kompromiss, der für viele Unternehmen an die Schmerzgrenze gehe und für einige darüber hinaus. Gesamtmetall-Chef Wolf betonte aber, dass das Ergebnis in der Nacht von den Mitgliedsverbänden breit mitgetragen worden sei. Er rechne deshalb mit einer raschen Übernahme des Pilotabschlusses.
Die nächste große Tarifrunde steht dann Anfang nächsten Jahres an. Am 24. Januar beginnen die Verhandlungen für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen.
Erstpublikation: 18.11.22, 03:28 Uhr (zuletzt aktualisiert: 18.11.22, 15:21 Uhr).
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