Die Bundesregierung will den Mindestlohn auf zwölf Euro erhöhen. Der Vorsitzende des Gremiums, Jan Zilius, rät der Ampel aber von einer Anhebung auf einen Schlag ab.
Kellnerin
Arbeitsminister Hubertus Heil stellt durch die Anhebung des Mindestlohns zehn Millionen Beschäftigten eine Gehaltserhöhung in Aussicht.
Bild: dpa
Berlin Der Vorsitzende der unabhängigen Mindestlohnkommission, Jan Zilius, hat sich positiv zum Plan der neuen Bundesregierung geäußert, den Mindestlohn auf zwölf Euro zu erhöhen, empfiehlt aber eine schrittweise Anhebung.
„Das ist eine Entscheidung im Sinne vieler Arbeitnehmer, und ich persönlich finde sie auch in Ordnung“, sagte der frühere RWE-Arbeitsdirektor dem Handelsblatt. Dass nicht alle Vertreter der mit Arbeitgebern und Gewerkschaftern besetzten Kommission gleich gut mit der politischen Entscheidung leben könnten, sei aber auch kein Geheimnis.
Von Arbeitgeberseite hatte es heftige Kritik daran gegeben, dass die Ampelregierung den Mindestlohn erneut politisch festsetzen will und erst danach wieder die eigentlich zuständige Kommission übernehmen soll.
Zilius empfiehlt der Politik aber eine schrittweise Anhebung: „Bei einer Erhöhung auf einen Schlag beispielsweise zum 1. Juli 2022 wären die Risiken etwa von Arbeitsplatzverlusten höher, als wenn man die Anpassung zeitlich streckt. Auch der Eingriff ins Tarifsystem wäre bei einer Anhebung in einem Schritt größer“, betonte Zilius.
So würden bei einer Erhöhung auf zwölf Euro zum 1. Juli 2022 mehr als 30 Prozent der bestehenden Tarifverträge von der gesetzlichen Regelung überholt, zum 1. Januar 2023 wären es noch 17 Prozent. Am 1. Juli 2023 wären es nur noch rund sechs Prozent, ungefähr so viel wie bei der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015.
Wolle die neue Regierung aber den Mindestlohn gesetzlich anheben und das verwandte Thema der Anpassung der Minijobgrenze gleich mit anpacken, dann müsse sie sich „sputen“, sagte der Kommissionschef. „Denn laut Gesetz müssen wir bis Ende Juni über die Anfang 2023 greifende Anpassung entscheiden. Und es wäre, glaube ich, für die Öffentlichkeit schwer nachvollziehbar, wenn wir im Juni einen Beschluss fassten, der dann wenig später wieder aufgehoben würde.“
Was halten Sie von der Entscheidung der Ampelregierung, den Mindestlohn auf zwölf Euro anzuheben?
Das ist eine Entscheidung im Sinne vieler Arbeitnehmer, und ich persönlich finde sie auch in Ordnung. Wir haben das Primat der Politik, und wenn es Mehrheiten für einen solchen Schritt gibt, dann tut man gut daran, dies zu respektieren und sich danach zu richten. Dass nicht alle Vertreter der Kommission gleich gut damit leben können, ist aber kein Geheimnis.
Bei der Kritik von Arbeitgeberseite steht mehr die Tatsache im Vordergrund, dass die unabhängige Kommission ausgehebelt wird, als die Lohnhöhe an sich. Sind zwölf Euro also gut verkraftbar?
Die Frage ist, in welchem zeitlichen Rahmen das umgesetzt wird. Bei einer Erhöhung auf einen Schlag beispielsweise zum 1. Juli 2022 wären die Risiken etwa von Arbeitsplatzverlusten höher, als wenn man die Anpassung zeitlich streckt. Auch der Eingriff ins Tarifsystem wäre bei einer Anhebung in einem Schritt größer.
Das müssen Sie erklären.
Nach Daten des Statistischen Bundesamts würden bei einer Erhöhung auf zwölf Euro zum 1. Juli 2022 mehr als 30 Prozent der bestehenden Tarifverträge von der gesetzlichen Regelung überholt, zum 1. Januar 2023 wären es noch 17 Prozent. Am 1. Juli 2023 wären es nur noch rund sechs Prozent, ungefähr so viel wie bei der Einführung im Jahr 2015.
Im Koalitionsvertrag wird – anders als im Wahlkampf – bewusst kein Datum für die Anhebung der Lohnuntergrenze genannt. Lässt die Bundesregierung der Kommission also ein Hintertürchen offen, um bei ihrer planmäßigen Entscheidung bis Ende Juni selbst auf zwölf Euro zu kommen?
So, wie ich den Wahlkampf und die Zeit der Sondierungen erlebt habe, scheinen die jetzige Koalition und vor allem die SPD ziemlich klar entschlossen zu sein, das so schnell wie möglich zu machen. Insofern ist davon nicht auszugehen. Es besteht aber ein zeitliches Problem.
Inwiefern?
Wenn die Regierung das Gesetzesvorhaben im Januar angeht und – was sehr wahrscheinlich ist – das verwandte Thema der Anpassung der Minijobgrenze gleich mit anpackt, dann muss sie sich sputen. Denn laut Gesetz müssen wir bis Ende Juni über die Anfang 2023 greifende Anpassung entscheiden. Und es wäre, glaube ich, für die Öffentlichkeit schwer nachvollziehbar, wenn wir im Juni einen Beschluss fassten, der dann wenig später wieder aufgehoben würde.
Mindestlohnkommissionschef Jan Zilius (Mitte), DGB-Kommissionsmitglied Stefan Körzell (links), BDA-Vertreter Steffen Kampeter (rechts)
Geteilter Meinung über die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro.
Bild: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dp
Laut Beschluss der Mindestlohnkommission steigt die Lohnuntergrenze ab Juli 2022 auf 10,45 Euro. Hat diese Entscheidung Bestand?
Wenn die Regierung eine schnellere Anhebung will, müsste sie die geltende Verordnung aufheben, was rechtlich möglich ist. Aber es wäre kein gutes politisches Zeichen gegenüber der unabhängigen Kommission, wenn das, was wir im Juni 2020 vorgeschlagen haben und was die Regierung in die Verordnung übernommen hat, überschrieben werden würde.
Die Arbeitgeber haben um eine Verschiebung der turnusmäßigen Sitzung der Mindestlohnkommission gebeten. Steht die Kommissionsarbeit auf der Kippe?
Dass die Arbeitgeberseite in der jetzigen Situation eine größere Klarheit über die Pläne der Regierung haben will, bevor wir zur Tagesordnung übergehen, kann ich gut nachvollziehen. Wenn aber jetzt das Gesetzgebungsverfahren beginnt, bin ich sicher, dass wir Anfang nächsten Jahres die verschobene Sitzung nachholen. Es gibt ja genug Arbeit, wir müssen zum Beispiel den nächsten Bericht vorbereiten.
Bei Einführung des Mindestlohns hatte die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles gesagt, die politische Festsetzung des Mindestlohns bleibe ein einmaliger Schritt. Sehen Sie hier einen Wortbruch, zumal sich die Ampel gleichzeitig die Stärkung der Tarifautonomie auf die Fahnen schreibt?
Die Ampelkoalition versichert, dass es sich um einen einmaligen Eingriff handeln wird und dass die Kommission dann wieder übernehmen soll. Aber wenn es immer wieder solche Eingriffe gibt, dann gerät die Tarifautonomie in Gefahr.
Es gab im Vorfeld der Wahl Diskussionen, ob nicht der Kriterienkatalog, an dem sich die Kommission bei ihrer Entscheidung orientiert, erweitert werden sollte. Erwarten Sie neue Festlegungen im Gesetz?
Momentan gehe ich nicht davon aus. Ein Anlass könnte aber sein, dass auf EU-Ebene ja auch Kriterien überlegt und geprüft werden, aber die Diskussion ist da längst noch nicht abgeschlossen.
Könnte „Armutsfestigkeit“ ein Kriterium für die Anpassung des Mindestlohns sein?
Der Mindestlohn ist keine wesentliche Stellgröße, um wirklich etwas gegen Armut zu tun. In 75 Prozent der armutsgefährdeten Haushalte gibt es keine Personen, die eine Beschäftigung haben, dort würde auch ein Mindestlohn von 20 Euro nicht helfen. Und von den verbleibenden 25 Prozent der Haushalte arbeitet nur in etwa jedem vierten eine Person zum Mindestlohn. Wenn Sie das zusammenfassen, erreichen sie maximal jeden zehnten armutsgefährdeten Haushalt. Das ist immerhin etwas, aber der Mindestlohn bleibt kein wirkliches Werkzeug gegen Armut.
Sollte es bei einer Anhebung auf zwölf Euro erneut Ausnahmeregelungen geben, etwa für bestehende Tarifverträge oder bestimmte Gruppen?
Die Rahmenbedingungen sind heute sicherlich andere als 2015, weil wir seither Erfahrungen mit den Wirkungen des Mindestlohns gesammelt haben. Statt erneuter Ausnahmeregelungen würde ich aber eher eine zeitliche Abstufung der Erhöhung empfehlen, wenn man sich über die Auswirkungen nicht ganz sicher ist. Ein halbes Jahr macht schon viel aus. Wichtig ist ein Vorlauf, damit die Wirtschaft sich darauf einstellen kann – so wie es bei den 10,45 Euro passiert ist. Wenn die ab dem kommenden Juli gelten, wird nur noch ein Tarifvertrag darunter liegen.
Die Coronapandemie ist längst nicht überwunden, es wird über neue Lockdowns diskutiert. Ist es klug, in einer solchen Phase den Mindestlohn anzuheben, der ja vor allem in besonders von der Pandemie betroffenen Branchen wie dem Gastgewerbe oder dem Einzelhandel gezahlt wird?
Die Pandemie ist das eine, das andere ist aber die besondere Situation in vielen Branchen: In der Gastronomie oder im Einzelhandel gibt es längst Überlegungen, die Löhne deutlich zu erhöhen – einfach deshalb, weil die Branchen sonst kein Personal mehr finden. So etwas kannten wir vor sieben Jahren nicht.
Welche Rolle spielen die aktuell hohen Inflationsraten bei Ihrer Kommissionsarbeit?
Bei unserer nächsten Anpassungsempfehlung werden sich die aktuell hohen Inflationsraten im Tarifindex abbilden, sofern sie in den jetzt abgeschlossenen Tarifverträgen berücksichtigt werden. Es besteht im Moment aber auch viel Unsicherheit: Erste Ökonomen sagen, dass bei der Preissteigerung der Zenit überschritten ist. Wenn im Juni für die Jahre 2023 und 2024 eine Entscheidung ansteht, müssen wir womöglich über das Thema nicht mehr gesondert diskutieren.
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