Handelsblatt App
Jetzt 4 Wochen für 1 € Alle Inhalte in einer App
Anzeigen Öffnen
MenüZurück
Wird geladen.

26.03.2022

08:01

Interview

Katja Kipping zu Ukraine-Flüchtlingen: „Die Menschen wollen hier arbeiten“

Von: Jürgen Klöckner, Dietmar Neuerer

Berlins Sozialsenatorin fordert einen Flüchtlingskrisenstab auf Bundesebene, kritisiert Kanzler Scholz und rechnet mit vielen Flüchtlingen aus Russland.

Katja Kipping dpa

Katja Kipping

„Ein Fluchtgipfel ist okay, aber er darf keine reine Showmaßnahme sein.“

Berlin Berlins Arbeits- und Sozialsenatorin, Katja Kipping (Linke), fordert eine schnelle Anerkennung von Berufsabschlüssen, um Ukraine-Flüchtlinge rasch in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. „Wir müssen im bundesweiten Zusammenspiel eine unbürokratische Lösung für die Anerkennung von Berufsabschlüssen finden“, sagte Kipping dem Handelsblatt. „Das muss schnell geschehen, denn die Menschen, die zu uns kommen, wollen sich mit ihrer Arbeit einbringen.“

Mit Blick auf die Finanzierung von Sprach- und Integrationskursen für Kriegsflüchtlinge verlangt Kipping eine faire Aufteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. „Die Flüchtlingskosten sind eine Aufgabe von nationaler Tragweite“, sagte die Linken-Politikerin. Kritisch sieht Kipping die Haltung der Bundesregierung, wonach Geflüchtete sozialrechtlich nach dem Asylbewerberleistungsgesetz abgesichert werden sollen. „Wir wollen, dass die Menschen über die Leistungen des Sozialgesetzbuchs II versorgt werden“, sagte sie. „Über diese Grundsicherung wäre der Zugang zu Integrationskursen, Sprachkursen, Arbeitsmarktmaßnahmen und auch zum Arbeitsmarkt viel leichter und schneller möglich.“

Skeptisch äußert sich Kipping zu einem möglichen Flüchtlingsgipfel, um die Verteilung der Flüchtlinge besser zu koordinieren. „Ein Fluchtgipfel ist okay, aber er darf keine reine Showmaßnahme sein“, sagte sie. Klar müsse sein, dass die bundesweite Verteilung der Flüchtlinge rechtsverbindlich sei. „Wir haben zum wiederholten Mal erlebt, dass Menschen, die nach Königsteiner Schlüssel verteilt wurden, wieder nach Berlin zurückgeschickt wurden“, sagte Kipping. Es gebe Fälle aus dem Landkreis Fallingbostel in Niedersachsen. „Das geht nicht. Das ist eine Unverschämtheit gegenüber Kriegsflüchtlingen.“

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Frau Kipping, jeden Tag erreichen Tausende Geflüchtete aus der Ukraine Berlin. Wie erleben Sie die Situation derzeit?
In Berlin sind wir für den Bund über Wochen in Vorleistung gegangen. Zu Beginn der Fluchtbewegung sind fast alle Geflüchteten nach Berlin gekommen. Das waren pro Tag etwa 10.000 Menschen. Seit einigen Tagen hat sich die Lage zum Glück etwas entspannt, und es kommen pro Tag zwischen 4000 und 5000 Menschen. Dies kann sich aber – je nach Verlauf des Krieges – rasch ändern.

Wie gehen Sie damit um?
Das ist nicht nur eine große logistische Aufgabe, sondern auch eine emotionale angesichts all der Schicksale. Es kommen auch viele Menschen mit besonderen Bedarfen zu uns. Leute, die krank sind, Menschen mit Behinderungen, Waisen, hochpflegebedürftige Menschen, Hochschwangere. Das alles zusammenzubringen ist eine unglaubliche Herausforderung.


Ukraine-Krieg Reuters

Ukrainische Flüchtlinge am Bahnsteig im polnischen Przemysl

Schätzungen zufolge werden noch weitere Millionen Ukrainer in andere europäische Länder fliehen.


Sind Sie zufrieden mit der Unterstützung des Bundes?
Es hat eine Weile gedauert, den Bund wachzurütteln. Das muss man sehr deutlich sagen. Es gibt einzelne Minister, die den Ernst der Lage verstanden haben. Mit Hubertus Heil, dem Arbeitsminister, gibt es beispielsweise einen guten Austausch. Aber beim Kanzler zum Beispiel habe ich den Eindruck, dass er noch nicht verinnerlicht hat, dass wir es mit einer gesamtstaatlichen Aufgabe zu tun haben, bei der alle in die Pflicht genommen werden müssen.

Haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Bundesregierung nach vier Wochen Krieg immer noch schwer damit tut, das Ausmaß der Fluchtbewegung aus der Ukraine nach Deutschland einzuschätzen?
Es gibt belastbare Zahlen vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Ich denke, inzwischen kennt man im Bund das Ausmaß.

Wie hilft der Bund?
In Berlin unterstützt uns das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit 20 Mitarbeitenden im Ankunftszentrum. Auch die Bundeswehr hilft mit 80 Soldatinnen. Die Verkehrsströme werden inzwischen zum Teil um Berlin herumgesteuert.

Wie läuft das in Berlin ab: Was wird zum Beispiel einer jungen Familie in Berlin angeboten, wenn sie hier ankommt?
Unser Anliegen ist, dass die Leute sehr schnell per Busshuttle zum Ukraine-Ankunftszentrum im früheren Flughafen Tegel kommen, wo sie dann in die bundesweite Verteilung gehen. Diejenigen, die in Berlin bleiben, kommen in eine Notunterkunft, bis die Registrierung abgeschlossen ist. Wer als Kriegsflüchtling nach Paragraph 24 eingestuft ist, hat Anspruch auf Arbeitserlaubnis, Zugang zu Sozialleistungen, und die Kinder haben das Recht auf einen Schulplatz.


Ukraine-Krieg

Trümmerlandschaften in Kiew: Drohnenaufnahmen zeigen Ausmaß der Zerstörung

Ukraine-Krieg: Trümmerlandschaften in Kiew: Drohnenaufnahmen zeigen Ausmaß der Zerstörung

Ihr Browser unterstützt leider die Anzeige dieses Videos nicht.


Und das funktioniert mit der Arbeitserlaubnis?
Mit der Arbeitserlaubnis ja. Aber: Wir müssen im bundesweiten Zusammenspiel eine unbürokratische Lösung für die Anerkennung von Berufsabschlüssen finden. Das muss schnell geschehen, denn die Menschen, die zu uns kommen, wollen sich mit ihrer Arbeit einbringen. Das können wir nicht auf die lange Bank schieben.

Sprach- und Integrationskurse, Kinderbetreuung – das alles kostet Geld. Wie ist Ihre Erwartung an den Bund hinsichtlich der Flüchtlingskosten?
Die Flüchtlingskosten sind eine Aufgabe von nationaler Tragweite. Da wird es eine klare Verständigung geben müssen. Die Kosten müssen fair zwischen Bund, Ländern und Kommunen aufgeteilt werden. Bisher sagt die Bundesregierung, die Menschen werden sozialrechtlich nach dem Asylbewerberleistungsgesetz abgesichert. Das ist aus unserer Sicht unzureichend.

Was schwebt Ihnen vor?
Wir wollen, dass die Menschen über die Leistungen des Sozialgesetzbuchs II versorgt werden. Über diese Grundsicherung wäre der Zugang zu Integrationskursen, Sprachkursen, Arbeitsmarktmaßnahmen und auch zum Arbeitsmarkt viel leichter und schneller möglich. Ein solche Regelung würde auch zu einer erheblichen Entlastung der bezirklichen Sozialämter führen.

Hier muss sich dann der Bund bewegen.
Ich hoffe, da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Wäre ein Flüchtlingsgipfel sinnvoll, um die Verteilung der Flüchtlinge besser zu koordinieren, vielleicht sogar ein Flüchtlingskrisenstab im Kanzleramt?
In Berlin haben wir einen Krisenstab. Das ist auch auf Bundesebene denkbar. Ein Fluchtgipfel ist okay , aber er darf keine reine Showmaßnahme sein. Wichtiger wäre, dass wir uns über die bundesweite Verteilung besonderer Gruppen verständigen. So sollten zum Beispiel jüdische Gemeinden zusammen in Orte kommen, wo es bereits jüdisches Leben gibt.

Es muss außerdem klar sein, dass die bundesweite Verteilung rechtsverbindlich ist. Wir haben zum wiederholten Mal erlebt, dass Menschen, die nach Königsteiner Schlüssel verteilt wurden, wieder nach Berlin zurückgeschickt wurden. Das geht nicht. Das ist eine Unverschämtheit gegenüber Kriegsflüchtlingen.


Ukraine-Krieg

Militärische Lage

Stand: 21. März 2022


Wer schickt Flüchtlinge zurück?
Einzelne Landkreise machen das. Wir haben wiederholt von Fällen aus dem Landkreis Fallingbostel in Niedersachsen gehört.

Der stellvertretende Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Joachim Stamp, hat sich für eine Luftbrücke ausgesprochen, um die Menschen aus den umkämpften Gebieten auszufliegen. Ist das sinnvoll?
Menschen bei der Flucht zu unterstützen ist sinnvoll. Ob eine Luftbrücke das geeignete Instrument ist, müssen Militärexpertinnen beurteilen, die die Situation besser einschätzen können.

Es flüchten nicht nur Ukrainer. Es gibt auch Tausende Russen, die auf der Flucht sind aus Sorge vor politischer Verfolgung. Sollte Deutschland beziehungsweise die EU diesen Menschen helfen?
Wer in Russland Putins Angriffskrieg auf die Ukraine als Krieg bezeichnet, muss inzwischen mit einer Haftstrafe von bis zu 15 Jahren rechnen. Insofern sind bestimmt mehrere in Russland von politischer Verfolgung bedroht. Und politisch Verfolgte, egal aus welchem Land sie kommen, haben natürlich Anspruch auf Asyl.

Suchen denn mehr Menschen aus Russland Asyl in Berlin?
Wir beobachten insgesamt einen Anstieg der klassischen Asylgesuche. Wahrscheinlich werden in Zukunft mehr Menschen aus Russland darunter sein.


Ukraine-Krieg, Mariupol ddp/abaca press

Ortsschild von Mariupol

300 Menschen sollen bei dem Angriff auf das Theater der Stadt vor wenigen Tagen gestorben sein.

Foto: ddp images


Haben Sie Sorge, dass die große Hilfsbereitschaft nachlässt – ähnlich wie 2015?
Wir müssen in der Tat diese Mammutaufgabe auf Strecke denken. Das ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Die Hilfsbereitschaft der vielen Freiwilligen ist enorm wichtig. In Berlin werden wir Zehntausende Neu-Berlinerinnen haben, die vor dem Krieg geflohen sind.

Wo sollen diese Menschen unterkommen? Der Berliner Wohnungsmarkt ist schon jetzt überlastet.
Wir haben uns im Senat darauf verständigt, offensiv neue Grundstücke zu sichten, die mit Unterkünften bebaut werden. Zudem haben wir die Bauordnung geändert, sodass die modularen Unterkünfte schneller gebaut werden können.

Frau Kipping, vielen Dank für das Interview.

Direkt vom Startbildschirm zu Handelsblatt.com

Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.

Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.

×