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29.08.2021

15:08

Katastrophe von Kabul

„Heiko Maas wird schon bald Geschichte sein“ – Außenminister wegen fehlender Afghanistan-Strategie unter Druck

Von: Silke Kersting, Dietmar Neuerer

Wie geht es nach dem Ende der Evakuierungsflüge in Afghanistan mit den verbliebenen Deutschen und Ortskräften weiter? Politiker aus Koalition und Opposition fordern einen Rettungsplan.

Inzwischen fordern 60 Prozent der Deutschen den Rücktritt von Außenminister Maas als Konsequenz der Entwicklungen in Afghanistan. AP

Heiko Maas

Inzwischen fordern 60 Prozent der Deutschen den Rücktritt von Außenminister Maas als Konsequenz der Entwicklungen in Afghanistan.

Berlin Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Afghanistan steht die Bundesregierung weiter unter massivem Druck. Der menschenrechtspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Michael Brand (CDU), sprach dem SPD-Politiker Heiko Maas die Eignung als Außenminister ab.

„Heiko Maas wird bald schon Geschichte sein und als zu schwacher Außenminister in den Geschichtsbüchern stehen“, sagte Brand dem Handelsblatt. „Da wäre schon seit Jahren deutlich mehr strategische Außenpolitik mit Mumm für ein starkes Land wie unseres notwendig gewesen.“

Brand stuft die Lage in Afghanistan als „dramatisch“ ein. „Ich stehe mit Menschen vor Ort in Kontakt, da spielen sich echte menschliche Tragödien ab“, sagte der CDU-Politiker. Wenn man Menschenleben nicht gefährden will, könne man sicher nicht alle Rettungspläne auf offenem Markt diskutieren, aber der Außenminister werde auch daran gemessen, dass diesen Menschen konkret geholfen wird. „Die Verantwortung für deutsche Staatsbürger, Ortskräfte und Schutzsuchende besteht auch nach dem dramatischen Ende des Abzugs“, betonte Brand. „Hier ist Außenminister Maas qua Amt federführend in der Pflicht.“

Die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, Gyde Jensen (FDP),warf der Bundesregierung ein „Komplettversagen“ vor und forderte zumindest indirekt Rücktritte. Sie erwarte, dass die zuständigen Minister „in den nächsten Tagen persönliche Konsequenzen aus ihrer koordinierten Verantwortungslosigkeit ziehen“, sagte sie dem Handelsblatt. Etwaige Rücktritte dürften allerdings nicht zu einer schlechteren Ausgangslage für die noch in Afghanistan zurückgebliebenen Menschen führen.

Am Freitag hatte das Auswärtige Amt mitgeteilt, dass nach der Rettung von 5347 Menschen aus Afghanistan und dem Ende des Evakuierungseinsatzes der Bundeswehr noch immer rund 300 Deutsche und mehr als 10.000 Afghanen auf Ausreise nach Deutschland warten. An diesem Sonntag beginnt der Bundesaußenminister eine viertägige Reise in mehrere Länder, um Gespräche zur künftigen Afghanistan-Politik zu führen.

Nach Aussagen des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller, werde weiter „intensiv“ daran gearbeitet, die Ausreise der Ortskräfte und ihrer Familien auf verschiedenen Wegen zu ermöglichen. Gleichzeitig würden Ortskräfte unterstützt, die in Afghanistan aus den verschiedensten Gründen bleiben wollen, etwa zur Pflege von Familienangehörigen, sagte der CSU-Politiker dem Handelsblatt. „Das ist alles andere als eine „Bleibeprämie“, das ist „Überlebenshilfe“, um sich durch diese sehr schwierige Zeit zu kämpfen.“

Es werde alles versucht, um das Überleben der Menschen vor Ort zu sichern, sagte Müller weiter. „Aktuell baut sich eine dramatische Hungerkrise auf: zusammengebrochene Versorgungswege, die Folgen von Covid-19, und Dürren. 14 Millionen Menschen sind bedroht.“

Umfrage: Deutsche fordern Rücktritt des Außenministers

Der FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki erhob schwere Vorwürfe gegen Maas. „Es ist erschütternd, mit wie wenig Weitblick und mit wie viel Ignoranz die Spitze des Auswärtigen Amtes in dieser Frage vorgegangen ist“, sagte Kubicki dem Handelsblatt. Die Bundesregierung habe lange die Auffassung vertreten, die Ortskräfte sollten möglichst vielzählig vor Ort bleiben. „Letztlich bedeutete dies aber, dass wir sie dort im Stich gelassen haben“, sagte Kubicki. „Es ist aus humanitärer Sicht beschämend.“

Inzwischen fordern 60 Prozent der Deutschen den Rücktritt von Außenminister Maas als Konsequenz der Entwicklungen in Afghanistan. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag des Handelsblatts. Nur 30 Prozent der Deutschen erklärten, der Minister sollte „eher nicht“ oder „auf keinen Fall“ zurücktreten. Zehn Prozent der Wähler sind unentschieden.

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Bei den SPD-Anhängern wünschen sich 44 Prozent der Befragten einen Rücktritt des SPD-Ministers. Ebenfalls 44 Prozent sprechen sich dagegen aus. Bei den Anhängern von CDU/CSU fordern 57 Prozent seinen Rücktritt. Bei den Wählern der Grünen sind es 60 Prozent, der FDP 68 Prozent.

Trittin: Bundesregierung hat Deutschland erpressbar gemacht

Auch der Grünen-Außenexperte Jürgen Trittin kritisierte, dass es noch keinen Plan für die Rettung der Verbliebenen gebe, obwohl dies „überlebensnotwendig für die Betroffenen“ sei. „Weil zu spät gehandelt wurde, hängt nun die Rettung am guten Willen der Taliban“, sagte er. Das werde seinen Preis haben. „Es ist schon erschütternd: Das Versagen der Regierung Merkel/Scholz hat Deutschland erpressbar gemacht.“

Die Bundeswehr hat wie viele weitere Staaten ihre Luftbrücke aus Kabul beendet. Doch noch immer versuchen zahlreiche Afghanen und Ausländer, das Land zu verlassen. Die Bundesregierung will nun auf anderen Wegen versuchen, schutzbedürftigen Menschen bei der Ausreise zu helfen. Nach der militärischen Evakuierung gehe „unsere Hilfsaktion“ in eine „neue Phase“, sagte Maas.

Das erste Ziel von Maas viertägiger Reise ist die Türkei. Der Nato-Partner ist daran interessiert, den bislang von den USA kontrollierten Flughafen von Kabul zu sichern und weiterzubetreiben. Auch die Flüchtlingspolitik dürfte eine Rolle spielen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte bereits angekündigt, dass sein Land keine Menschen aus Afghanistan aufnehmen will.

Anschließend reist Maas nach Usbekistan, Pakistan und Tadschikistan. Die drei Nachbarländer Afghanistans spielen eine wichtige Rolle für die Pläne, Menschen auf dem Landweg in Sicherheit zu bringen, falls keine Flüge möglich sind.

Letzte Station des Außenministers ist das Golfemirat Katar. Dort hat das politische Büro der militant-islamistischen Taliban seinen Sitz. Es war auch schon kontaktiert worden, um deutsche Evakuierungsflüge aus Kabul mit den neuen afghanischen Machthabern abzusprechen. Die Taliban haben einen Weiterbetrieb des Flughafens ab dem 31. August zugesagt. Ob das auch verlässlich ist, muss sich aber erst noch herausstellen.

Grüne fordern rote Linien für Gespräche mit den Taliban

Die Grünen dämpften die Hoffnungen: „Es ist notwendig, dass sich die Bundesregierung und ihre Partnerstaaten über rote Linien in der Verhandlungsführung mit den Taliban verständigt und nicht kopflos in die Gespräche hineingeht“, sagte der außenpolitische Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion, Omid Nouripour, dem Handelsblatt. Die Taliban seien keine Verhandlungspartner wie andere. „Wir haben es mit einer Terrororganisation zu tun“, sagte er und warnte davor, mit Hilfszusagen an die Taliban sich deren Kooperation zu erkaufen.

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Deutschland hatte zuletzt seine humanitäre Hilfe für Notleidende in Afghanistan um 500 Millionen Euro aufgestockt. Bereits vor wenigen Tagen hatte die Bundesregierung 100 Millionen Soforthilfe für die Versorgung von Flüchtlingen in und um Afghanistan zugesagt, die ausschließlich über humanitäre Hilfsorganisation geleistet werden soll. Die 500 Millionen kommen nun hinzu.

Nouripour sagte: „Mit einer halben Milliarde Entwicklungshilfe zu locken und auf diese Weise zu hoffen, noch weitere Ortskräfte hinauszubekommen, ist verheerend.“ Man könne doch einer Terrororganisation nicht pauschal Geld geben, mit dem sie sich noch mehr aufrüste und ihre eigene Bevölkerung terrorisieren könne.

CSU-Entwicklungshilfeminister Müller kündigte angesichts der Lage weitere Unterstützung der Bundesregierung für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und UN-Hilfsorganisationen in der Region an. „Die Bundesregierung wird ihre Mittel für NGOs und UN-Hilfsorganisationen in der gesamten Region erheblich ausbauen“, sagte Müller. „Konkret haben wir in einem ersten Schritt 50 Millionen Euro als Soforthilfe zur Unterstützung der Flüchtlingsarbeit umgesteuert. Aber es braucht jetzt ein schnelles und gemeinsames Handeln der Staatengemeinschaft, das nicht an fehlenden Mitteln für die UN-Hilfsorganisationen scheitern darf.“

Der Minister verteidigte das Aussetzen der Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan. „Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich die Lage dramatisch verändert“, sagte er. Die staatliche Entwicklungszusammenarbeit sei an klare Voraussetzungen geknüpft: Sicherheit der Mitarbeiter, Achtung der Menschenrechte. Diese Voraussetzungen seien derzeit nicht gegeben. „Ich traue den Zusicherungen der Taliban nicht“, so Müller. „Deshalb haben wir die staatliche Entwicklungszusammenarbeit vorerst ausgesetzt.“

Kubicki fordert Maas zum Rücktritt auf

Das Auswärtige Amt nannte am Donnerstag auf seiner Webseite Details, wie es nun für die in Afghanistan verbliebenen Deutschen, afghanischen Ortskräfte oder gefährdeten Personen weitergehen kann. Das Ministerium rät registrierten Deutschen etwa, Afghanistan mit eigenen Mitteln auf dem Landweg zu verlassen, sollten sie Gelegenheit dazu haben. In den Nachbarstaaten würden die Botschaften dann ab der Grenze konsularische Unterstützung leisten. Ähnliches wird den Ortskräften mit gültigem Pass und Visum vorgeschlagen.

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Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, sprach von einer „hochriskanten Strategie“. „Wenn man das Land auf dem Landweg verlässt, sind diese Menschen einer großen Gefahr für ihr physisches Wohl ausgesetzt“, sagte er. „Wir erleben ja immer wieder, wie lokale Taliban-Gruppen die Anweisungen der Führung ignorieren und ihren eigenen Umgang mit Ortskräften praktizieren.“

Auch Trittin übte scharfe Kritik an den Empfehlungen des Auswärtigen Amtes. Solange der Flughafen nicht mehr sicher ist, sei der Landweg zwar die einzige Strategie. „Aber dieser Rat ist ein Zeugnis der Hilflosigkeit, wenn den Menschen keine Sicherheitsgarantien bis zur Grenze oder für die Überquerung derselben gegeben werden können“, sagte er. „Solange das nicht möglich ist, darf man niemanden ernsthaft auf diesen Weg schicken.“

Kubicki sprach von einem „Ausweis von Hilflosigkeit“ und forderte den Rücktritt von Maas. „Die Menschen in Deutschland können erwarten, dass zumindest Heiko Maas als Außenminister die Konsequenzen aus dem völligen Desaster zieht und zurücktritt.“

FDP fordert EU-Sondergipfel zu humanitären Fragen

Die Menschenrechtspolitikerin Jensen mahnte: „Insbesondere an den Haupteinsatzorten der Bundeswehr und den Schwerpunktregionen der Entwicklungszusammenarbeit im Norden des Landes müssen gefährdete Personen lokalisiert und deren Ausreise in sichere Drittstaaten ermöglicht werden.“ Unerträglich sei in ihren Augen, dass der Schutz derjenigen, die sich auf die Bundesrepublik verlassen hätten, nun vom Wohlwollen der militant-islamistischen Taliban abhänge.

Die FDP-Politikerin forderte, dass sich die EU-Staats- und Regierungschefs mit der Lage in Afghanistan auseinandersetzen. „Die Einberufung eines Sondergipfels auf europäischer Ebene ist dringend notwendig - nicht zuletzt, um die drängendsten humanitären Fragen zu klären“, sagte Jensen.

Afghanistan

Maas sucht nach neuen Wegen für Evakuierungen

Afghanistan: Maas sucht nach neuen Wegen für Evakuierungen

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Neben Maas steht auch Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) in der Kritik. „Frau Kramp-Karrenbauer und Herr Maas haben die Karre in den Dreck gefahren. Und jetzt lehnen sie jede Debatte über ihre eigene Verantwortung mit dem Hinweis ab, sie würden alle Kraft darauf verwenden, sie wieder rauszuziehen“, sagte Trittin. „Das ist ebenso verlogen wie verantwortungslos.“

Sein Fraktionskollege Nouripour ergänzte: „Dass die Koalition geglaubt hat, wir können uns mit einem nicht sonderlich versierten Außenministers vier Jahre lang durchwurschteln, wird uns jetzt endgültig zum Verhängnis.“ Die gesamte Regierung sei verantwortlich, allen voran Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vize-Kanzler Olaf Scholz (SPD): „Der außenpolitische Schaden ist immens.“

Maas hatte zuletzt offengelassen, ob er nach der Bundestagswahl Ende September erneut für seinen Posten zur Verfügung steht und dies mit dem laufen Evakuierungseinsatz in Afghanistan begründet. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hatte angekündigt, nach dem Ende des Evakuierungseinsatzes über persönliche Konsequenzen nachzudenken.

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